Leseprobe: Verloren ohne dich


.

.

.

Kapitel 1
Der Besuch

Die Sonne schien. Endlich. Bereits seit Wochen hatte sie sich hinter einer dunklen Wolkenfront versteckt und nur ab und an hervorgeblinzelt. Heute waren die trüben Wolken verschwunden und ließen einen strahlend blauen Himmel zurück. Obwohl es für den englischen Frühsommer keine außergewöhnlichen Wetterverhältnisse waren, stimmte der Sonnenschein Lucas gleich ein wenig fröhlicher.
Er lag im Gras, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen. Schon lange hatte er nicht mehr einfach faul in der Sonne gelegen, geschweige denn die Seele baumeln lassen, in den Tag hineingelebt, ohne Verpflichtungen. Ständig schwelte in ihm die Angst, wieder etwas falsch gemacht zu haben. Das war sein Schicksal. Lucas tappte von einem Fettnäpfchen ins nächste. Er war der Unglücksrabe der Familie.
Manchmal wünschte er sich an einen anderen Ort, an dem er frei war, ohne Pflichten, ohne ständiges Gezeter, ohne Unterdrückung. Um seinen größten Traum Wirklichkeit werden zu lassen, fehlten ihm jedoch der Mut und besonders das Geld. Vor allem würden seine Adoptiveltern es zu verhindern wissen. Zumindest sagten Susanne und Franklin immer, sie hätten ihn adoptiert, aber er hatte seine Zweifel. Bedenken, die all die Jahre bisher nie ausgesprochen oder angesprochen worden waren und was gewiss auch nie passieren würde.
Mit sechs Jahren waren seine leiblichen Eltern bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen. Obwohl er ebenfalls in diesem Auto gesessen hatte, war er lediglich mit leichten Verletzungen davongekommen. An die Zeit im Krankenhaus und die Monate danach, bis sich die Familie Patton seiner annahm, besaß er kaum Erinnerungen. Nur noch schemenhafte Bilder verfolgten ihn in seinen Träumen, die jedoch verschwanden, sobald er aufwachte.
Inzwischen hatte er sich mit seinem Leben abgefunden. Was nutzte es, einer unbekannten Vergangenheit nachzutrauern und sich an verschwommene Erinnerungen zu klammern, wenn die Gegenwart ihn völlig vereinnahmte? Täglich morgens um sechs Uhr klingelte sein Wecker. Danach wartete die Arbeit auf ihn. Mit kleinen Pausen, in denen er schnell etwas aß, hörte sein Tag meistens erst spätabends auf. Manchmal half er morgens der Köchin Rosalin bei den Vorbereitungen für das stets üppige Mittagessen der Familie Patton. Anschließend war es seine Aufgabe, das viertausend Quadratmeter große Grundstück in Ordnung zu halten. Ein Knochenjob.
»Warum das Geld einer Gärtnerfirma in den Rachen schieben, wenn Lucas das genauso gut kann?«, sagte Susanne stets, wenn das Gespräch auf die Pflege des großen Grundstückes fiel.
Wenn Lucas seine Arbeit nicht zu ihrer vollsten Zufriedenheit erledigt hatte, forderte sie abends von ihrem Mann, Sanktionen gegen Lucas zu verhängen. Oftmals stand dabei zur Debatte, die neuen Privilegien zu streichen, die er inzwischen genießen durfte.
Franklin stand nicht auf seiner Seite, dennoch ergriff er manchmal Partei für ihn, aber nur aus einem Grund: Er hatte keine Lust, mehr Geld als notwendig auszugeben. »Schatz, das Grundstück ist groß und macht eine Menge Arbeit. Wenn er es nicht schafft, muss er eben am nächsten Tag mehr arbeiten und seine Sonderrechte werden gestrichen. Vor allem kostet er nichts. Nur deswegen darf er bleiben.«
Seit zwei Jahren durfte er zu den wöchentlichen Großeinkäufen die Köchin begleiten, die wiederum von dem Butler Maximilian gefahren wurde. Dabei ließen sie es sich richtig gut gehen, ganz nach dem Motto: »Was Susanne und Franklin Patton nicht wissen, können sie auch nicht bestrafen.« Auf diese Weise machten sie oft einen Abstecher in einen Eissalon oder in eines der zahlreichen Fast-Food-Restaurants. Entweder auf Rechnung von Rosalin oder Maximilian.
Außerdem besaß Lucas zum ersten Mal einen Fernseher. Nicht einen modernen Flachbildschirm, nur ein einfaches Röhrengerät mit einer Zimmerantenne. Aber für ihn war das etwas Außergewöhnliches.
Alles hatte angefangen, als die Familie vor drei Jahren von dem Städtchen Cheltenham in den äußeren Westen Londons gezogen war. Hillingdon hieß dieser Stadtteil. Dort hatten sich Susanne und Franklin eine neue, größere fünfzehn Zimmer Villa im Stil der alten viktorianischen Herrenhäuser bauen lassen. Das alte Haus vermieteten sie zu einem horrenden Preis. Das neue Grundstück war ein wenig größer und grenzte direkt an das Bakerfield Black Forrest an, den erstklassigen Golfklub mit Hotel. Dieser gehörte inzwischen ebenfalls der Familie Patton.
Zahlreiche Angestellte kümmerten sich im Hotel und in dem Klub um alles, während Franklin als Manager fungierte und von seiner Frau tatkräftig unterstützt wurde. Das wiederum hatte Susanne auf eine Idee gebracht: Seit neun Monaten musste Lucas auch auf dem Grundstück des Golfklubs und der weitläufigen Parkanlage aushelfen. Inzwischen betrachtete ihn jeder als Mädchen für alles.
»Lucas? Wo bist du? Wo steckst du schon wieder?«, rief plötzlich mit schriller Stimme eine Frau, die sich ihm näherte.
Die Worte fuhren ihm durch Mark und Bein und rissen ihn aus seinen Gedanken. Seine ohnehin kurze Mittagspause hatte so angenehm ruhig angefangen und endete nun abrupt. »Was will sie wieder?«, raunte er und erhob sich nur widerwillig.
Gerade rechtzeitig, bevor die knirschenden Kieselsteine unter Susannes Sohlen ihr Kommen verrieten. Er klaubte die Spritzdüse des Wasserschlauchs auf, drehte am Wasserregler und ein feiner Sprühregen ergoss sich über den grünen Rasen. Im selben Moment tauchte eine schlanke Frau hinter einer Hecke auf. Lucas schielte zu ihr hinüber, tat aber so, als hätte er sie nicht gesehen.
Susanne war Mitte vierzig, doch durch ihre ständigen Beautykuren und zwei Schönheitsoperationen wollte sie gut zwanzig Jahre jünger aussehen. Dass ihr Vorhaben erfolglos war, konnte jeder sehen. Wie so oft hatte sie sich ihre roten Haare hochgesteckt und trug ein maßgefertigtes dunkelblaues Kostüm. Manchmal fragte er sich, ob ihr Kleiderschrank außer Ensembles und extravaganter Abendrobe noch etwas anderes beherbergte. Eines stand jedoch fest: Susanne war eine knallharte Geschäftsfrau, genauso wie ihr Mann. Franklin war ihr männliches Gegenstück. Arroganz war Susannes größte Charaktereigenschaft, gefolgt von ihrem unersättlichen Schönheitswahn und ihrer maßlosen Überheblichkeit.
»Verdammt, Lucas! Hörst du nicht, dass ich dich rufe?« Sie überbrückte die restlichen Schritte, bis sie neben ihm stand. Dabei wäre sie beinahe mit ihren hochhackigen Pumps in den Kieselsteinen stecken geblieben und der Länge nach auf dem Boden gelandet.
Lucas unterdrückte ein schadenfrohes Grinsen und beobachtete Susanne, die verärgert die Hände in die Hüften stemmte. Sie hatte sich wieder viel zu viel Make-up ins Gesicht geschmiert. Damit wirkte sie nicht wie eine Fünfundzwanzigjährige, die sie gern zu sein vorgab, sondern eher wie eine Frau, die sich gewaltsam verjüngte, ganz zu ihrem Nachteil.
»Was machst du da?«, fragte sie und rümpfte die Nase. »Du stinkst.«
»Ich arbeite«, antwortete er schlicht und gab vor, sich auf das Gießen des Rasens zu konzentrieren. Doch innerlich ahnte er bereits, dass sie gleich einen Anschlag auf ihn vorhatte.
»Das sehe ich auch.« Susanne seufzte. »Du musst heute früher fertig werden. Danach gehst du erst mal duschen. Hast du verstanden?«
Lucas stöhnte innerlich auf. Was erwartete sie von ihm? Dass er bei der schweißtreibenden Arbeit in der prallen Sonne duftete wie ein Rosenbusch? Er schluckte einen bissigen Kommentar hinunter. »Wieso? Ich brauche mindestens noch zwei Stunden für den Rasen. Und ich sollte Mr Talbot am Bootssteg helfen. Eine Verankerung hat sich …«
»Frag nicht so dumm! Mr Talbot kann das auch allein. Wir erwarten die Familie Lancford um achtzehn Uhr zum Essen. Du musst vorher Rosalin bei den Vorbereitungen in der Küche aushelfen. Ich habe dir einen Anzug aufs Bett gelegt. Den wirst du anziehen und bei uns am Tisch essen.«
»Mit euch essen?« Er blickte sie an, als hätte sie eben Suaheli mit ihm gesprochen.
Dass er mit der Familie Patton an einem Tisch saß, war bisher nur ein einziges Mal vorgekommen. An diesem Tag nahmen sie ihn mit zu einem Anwalt, bei dem er ein paar Unterlagen unterschreiben musste, für die er extra seine Unterschrift hatte üben müssen. Zwei Tage hatte er dafür unter strenger Aufsicht gebraucht. Ansonsten waren seine Adoptiveltern um keine Ausrede verlegen, damit er der Öffentlichkeit fernblieb. Am liebsten sahen sie es, wenn ihre Gäste Lucas weder kannten noch sahen – was ihn keineswegs störte.
»Ja. Bist du taub?« Susanne verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn an. Das tat sie immer, wenn sie genervt von ihm war. »Keine Ahnung, wer es war, doch irgendjemand hat von dir erzählt. Da Victoria in Oxford ist und Samuel erst in zwei Wochen zurückkommt, sitzt du eben an ihrer Stelle am Tisch. Beeil dich gefälligst, und mach später etwas mit deinen Haaren.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief unbeholfen den Kiesweg zurück, der bis zur großen Terrasse der Villa führte. Als sie schließlich außer Sicht war, drehte er den Wasserschlauch ab und setzte sich mitten auf den Weg. Seine Gedanken überschlugen sich. Er durfte beim Abendessen dabei sein. War das eine Ehre oder doch vielmehr ein zweifelhaftes Vergnügen? Auf jeden Fall würde er diesen Tag im Kalender rot anstreichen. Nur von den Gästen, der Familie Lancford, wusste er nicht viel. Wenn er sich nicht irrte, spielte Mr Lancford regelmäßig im Bakerfield Black Forrest Golf. Diese Information hatte er zufällig mitbekommen, als sich Susanne und Franklin vor ein paar Tagen darüber unterhalten hatten.
So groß das Privileg für den heutigen Abend war, so nervös und ängstlich war Lucas. Sehnsüchtig wünschte er sich seine Stiefgeschwister herbei, damit er sich in Ruhe mit einem einfachen Sandwich in sein Zimmer im Keller zurückziehen konnte.
Victoria war zwei Jahre älter als er. Letztes Jahr hatte sie ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert. Eigentlich war er froh, sie nicht zu sehen, da sie inzwischen in Oxford studierte und nur ab und an nach Hause kam. Sie konnte ihn nicht leiden und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Auch sein älterer Stiefbruder Samuel bildete da keine Ausnahme. Zum Glück kehrte dieser nur zweimal im Jahr nach England zurück. Er studierte Jura an einer amerikanischen Eliteuniversität und war mit einer reichen Amerikanerin verlobt. Lucas hatte sie zu Weihnachten einmal aus der Ferne gesehen. Für ihn stand fest: Sie war genauso eingebildet wie Samuel. Selbst Samuels ständige Sticheleien, wie wichtig ein gutes familiäres Umfeld, eine hervorragende Schulbildung und persönliche Beziehungen in der modernen Zeit wären, hätte Lucas ertragen, wenn er sich dadurch vom heutigen Essen hätte fernhalten können. Doch es war beschlossene Sache, also hatte er sich ohne Widerworte zu fügen.
Er stand auf, nahm die Spritzdüse des Wasserschlauchs in die Hand und ging wieder an die Arbeit. Schließlich machte sie sich nicht von allein.

Auf die Minute genau kam Lucas die Kellertreppe nach oben geschlurft und stand in der Küche, in der es bereits herrlich duftete. Er schloss die Tür hinter sich, die den Keller von den oberen Wohnbereichen trennte, und lief hinaus in den Flur. Im Vorbeigehen schenkte ihm Rosalin ein anerkennendes Lächeln. Die Freude darüber verhallte, als er sah, wie ungeduldig Susanne und Franklin ihn in der großen Eingangshalle erwarteten.
Susanne trug ein enges weinrotes Cocktailkleid, das ihren freien Rücken und ihre schmalen Schultern betonte. Ihre Frisur vom Mittag war einer neuen Hochsteckvariante gewichen. Sie hatte eine dicke Schicht Make-up aufgelegt und zu viel Lippenstift benutzt.
Franklin rückte das Jackett seines dunklen Anzugs und den roten Schlips zurecht, als Motorengeräusche auf der Auffahrt zu hören waren. Die erwarteten Gäste kamen pünktlich.
Vorerst war jedoch er den kritischen Blicken von Susanne und Franklin ausgeliefert. Lucas mochte den schwarzen Anzug und die graue Krawatte nicht, es war unbequem. Die Kleidung, ebenso die Schuhe, gehörten eigentlich Samuel. Da sie die gleiche Größe trugen, hatte seine Adoptivmutter einfach zu diesem Mittel gegriffen. Wenigstens wusste Samuel nichts davon, da er dies sicherlich nicht besonders lustig gefunden hätte. Außerdem sah sein Stiefbruder in dem Anzug viel besser aus, als er sich momentan fühlte. Am liebsten bevorzugte Lucas eine alte Jeans, darüber ein T-Shirt oder einen Pullover und ein Paar Sneakers.
»Hatte ich nicht gesagt, du sollst was mit deinen Haaren machen?« Susanne stöckelte auf ihn zu.
Sie hasste seine verwuschelte strohblonde Haarmähne. Er dagegen mochte sie genau so. Um Susanne zu ärgern, hatte er seine Haare absichtlich nach dem Duschen mit ein wenig Gel verstrubbelt. Sie musterte ihn skeptisch von oben bis unten; überprüfte sogar, ob er saubere Fingernägel hatte. Obwohl es nichts zu meckern gab, kräuselte sie die Lippen.
Franklin nickte lediglich. »Alles in Ordnung, Liebling.« Er legte ihr dabei einen Arm um die Hüfte und drehte sie bestimmend zur Haustür um, an der es in diesem Moment klingelte. »Du benimmst dich gefälligst, haben wir uns verstanden?«, flüsterte er Lucas zu. »Du redest nicht, außer du wirst direkt angesprochen. Ich war von Anfang an dagegen, dass du dabei bist, aber Mr Talbot hat leider ausgeplaudert, dass du unser Sohn bist. Das wird für ihn auch noch Konsequenzen nach sich ziehen. Ein Ersatz ist schnell gefunden. Auf geschwätzige Hausmeister kann ich gern verzichten.« Franklin wandte sich ebenfalls der Tür zu und wartete, dass Butler Maximilian den Gästen Einlass gewährte.
Lucas schloss die Augen, atmete einmal tief durch und öffnete sie wieder. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, und seine Kehle war plötzlich trocken. Franklins Drohung hatte er deutlich verstanden. Er wusste, was passieren würde, wenn er sich nicht an die Regeln hielt. Bei Verstoß erwartete ihn mindestens ein Monat doppelt so viel Arbeit und die Großeinkäufe wären gestrichen. Was nicht so schlimm wäre, wenn er nicht zusätzlich für Franklins Wutausbrüche als Punchingball benutzt werden würde. Nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal. Er erinnerte sich ungern an Franklins Tracht Prügel vor drei Monaten, genau an Susannes Geburtstag. An diesem Tag hatte er es gewagt, mit einer Freundin von Victoria zu sprechen, die eingeladen gewesen war. Dass es sich dabei um einen Streich seiner Stiefschwester gehandelt hatte, war Franklin einerlei. Blaue Flecken, Quetschungen und Prellungen hatten Lucas danach wochenlang begleitet.
Aus den Augenwinkeln nahm Lucas wahr, wie Maximilian Mrs und Mr Lancford einließ. Sie wurden sofort von Susanne und Franklin heuchlerisch gut gelaunt in Empfang genommen. Überraschenderweise wirkten die neuen Nachbarn auf den ersten, aber auch nach dem zweiten und dritten Blick offenherzig freundlich und keineswegs arrogant. Das schmälerte ein wenig seine nicht unerhebliche Nervosität.
Seit dem belauschten Gespräch wusste er, dass die Gäste im gleichen Alter wie seine Adoptiveltern waren, aber ihnen sah er die Jahre nicht an. Vor allem schienen sie anders zu sein, als er es gewohnt war. An Susannes versteinertem Gesichtsausdruck konnte er deutlich erkennen, dass ihr das freundliche und jugendhafte Auftreten von Mrs Lancford missfiel, besonders weil sie in ihrem Kleid umwerfend aussah, was sogar Franklin bemerkte. Mrs Lancford hatte sich für ein knielanges schwarzes Cocktailkleid mit Pailletten entschieden, ihr Mann für einen schwarzen Anzug mit einem modernen bunten Schlips. Darin boten die Gäste einen eindrucksvollen Anblick. Mrs Lancford strahlte eine natürliche Jugendlichkeit und Leichtigkeit aus. Beides gefiel ihm.
»Das ist wohl Ihr Sohn Lucas«, sagte Mrs Lancford und näherte sich ihm mit einem Lächeln.
Er verbeugte sich höflich und drückte ihre dargereichte Hand, was er bei Mr Lancford wiederholte. Die Etikette war ihm fremd, aber zumindest eine ordentliche Begrüßung beherrschte er, weil Susanne sie ihm wohl oder übel vor Jahren beigebracht hatte. Für den Fall der Fälle, wie sie damals sagte. »Guten Abend. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Auf die plötzliche Aufmerksamkeit war er nicht vorbereitet gewesen.
»Ganz unsererseits. Du bist ein hübscher, junger Mann. Schade, dass Benjamin nicht mitkommen konnte. Er ist unser Sohn. Zurzeit ist er jedoch in Spanien. Es hätte ihm bestimmt gefallen, dich ebenfalls kennenzulernen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«
»Ihr Sohn ist in Spanien?«, lenkte Susanne ein und nahm Mrs Lancford am Arm. Sie führte ihren Gast in Richtung Speisezimmer, Hauptsache weg von Lucas.
Franklin kümmerte sich um Mr Lancford. Lucas blieb allein zurück und folgte nur langsam. Der Abend hatte nicht einmal begonnen und war bereits eine Katastrophe. Denn wenn Franklin und Susanne eines hassten, dann, dass man Lucas ansprach, als würde er zur Familie gehören und ihn genauso behandelte. Bevor er das Speisezimmer betrat, sah er aus den Augenwinkeln Maximilian, der ihm aufmunternd zuzwinkerte, was Lucas wiederum ein Lächeln entlockte. Er musste das Beste aus der Situation machen. Vielleicht würde es nicht so schrecklich werden wie befürchtet.
»Benjamin hat ein Fotoshooting in Andalusien«, hörte er dem Gespräch der beiden Frauen mit halbem Ohr zu, während sie mit ihren Männern an der großen Tafel Platz nahmen. »Er macht dort Aufnahmen für ein bekanntes Männermagazin. Er kommt morgen erst wieder zurück. Benjamin wird oft gebucht. In zwei Wochen fliegt er nach Australien.«
So ging es eine Zeit lang weiter. Susanne brachte schließlich die eigenen Kinder ins Gespräch mit ein, wobei sie immer wieder betonte, dass ihre Tochter Victoria auf der Suche nach dem Mann ihres Lebens wäre und wie erfolgreich ihr Studium verliefe. Zufällig würde sie nächste Woche nach Hause kommen, um einen Teil ihrer Semesterferien hier in London zu verbringen. Die Männer fachsimpelten über Golf. Lucas saß unsicher da und hoffte, der Abend würde schnell vorbeigehen.
Aufgekratzt und durstig stahl sich Lucas die Kellertreppe nach oben in die geräumige Küche. Schnurstracks lief er zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Wasser heraus. Dabei schielte er auf die Digitaluhr am Herd. Es war bereits halb zwei und in fünfeinhalb Stunden würde sein Wecker klingeln. Er war allerdings viel zu aufgewühlt, um überhaupt ans Schlafen zu denken. Immerhin hatte er versucht, einzuschlafen.
Seine Gedanken schlugen immer noch Purzelbäume vor Freude und gönnten ihm keine Ruhe. Er war aufgeregt und gleichzeitig ein wenig verängstigt. Ständig schwirrten die Worte von Joanne Lancford durch seinen Kopf. Sie hatten ihn persönlich nächste Woche zum Nachmittagstee zu sich nach Hause eingeladen. Zwar sollte er in Begleitung von Susanne und Franklin kommen, doch das störte ihn nicht. Zum ersten Mal interessierte sich jemand für ihn. Er war eingeladen worden. Einfach so. Ohne Verpflichtungen.
»Vielleicht hast du Lust, nächsten Donnerstag bei uns zum Tee vorbeizuschauen. Benjamin wird auch zu Hause sein. Sein Flug geht erst am Freitagmorgen. Deine Eltern sind natürlich auch herzlich willkommen.«
Das hatte Joanne bei ihrer Verabschiedung zu ihm gesagt. Ihr Mann William hatte sich ihr angeschlossen und hinzugefügt, er würde Lucas gern das Golfspielen beibringen.
Kaum waren die Gäste gegangen, war Lucas unverzüglich entlassen worden und hatte sich in sein kleines Zimmer im Keller zurückgezogen. Seitdem stellte er sich vor, wie es sein mochte, als Gast bei der Familie Lancford zu sein. Er durfte sich keinesfalls Fehler erlauben, doch das war einfacher gesagt als getan. Er wusste nicht einmal, wie er eine Teetasse richtig hielt, wie er Gebäck entgegenzunehmen hatte, was er überhaupt tun musste und was er zu sagen hatte. Vielleicht konnte Maximilian vorher ein wenig mit ihm üben? Eines stand auf jeden Fall fest: Seine Vorfreude war mindestens genauso groß wie seine Angst. Er war es einfach nicht gewohnt, unter Menschen zu sein.
»Du bist noch wach?«, sagte plötzlich eine Stimme.
Erschrocken hätte Lucas beinahe die Wasserflasche fallen gelassen, aber er konnte sie im letzten Moment noch abfangen. Im Halbdunkel drehte er sich um und sah im Türrahmen den Schatten von Franklin stehen.
»Was machst du hier oben?«, fragte dieser und schaltete das Licht ein.
Lucas blinzelte ein paar Mal wegen der unerwarteten Helligkeit und schluckte merklich. Die Härte in Franklins Tonfall und der boshafte Blick kündigten nichts Gutes an. Wieso war Franklin nicht längst im Bett? Er trug immer noch den Anzug vom Essen, hatte allerdings das Jackett und die Krawatte ausgezogen. Hatte er womöglich auf ihn gewartet? Es wäre nicht das erste Mal, dass er Lucas abpasste.
»Ich habe dir eine Frage gestellt. Was machst du hier?« Langsam kam er näher.
»Ich … ich hatte … Durst.« Lucas stellte in weiser Voraussicht die Flasche auf der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank ab.
»Ist der Wasserhahn in deinem Zimmer kaputt?«
Franklin Patton stand nun vor ihm. Lucas konnte eine deutliche Alkoholfahne riechen. Er hatte wieder getrunken. Das tat er in letzter Zeit öfter. Er sperrte sich in sein Arbeitszimmer ein, trank mehrere Gläser eines sehr teuren Whiskys und schlief auf der Ledercouch ein, die er extra dafür aufgestellt hatte.
»Nein«, antwortete Lucas kleinlaut. »Ich dachte nur …« Bevor das letzte Wort seine Lippen verließ, begann seine linke Wange zu glühen. Daraufhin spürte er auch schon die nächste Ohrfeige. Instinktiv machte er einen Schritt rückwärts und presste sich Schutz suchend gegen die Kühlschranktür. Abwehrend hob er beide Hände und fing gerade noch rechtzeitig Franklins Hand ab, die zum dritten Mal ausholte.
Das war ein Fehler.
»Du sollst nicht denken.« Franklin schnappte mit der anderen Hand nach Lucas’ Haaren. Er zog einmal kräftig daran, sodass der Kopf nach hinten ruckte. »Du sollst nur tun, was ich dir sage. Du fängst an, mich zu nerven. Du bist nicht einmal fähig, einfache Anweisungen zu befolgen.« Er griff nach Lucas’ Schultern und schleuderte ihn wutentbrannt zu Boden.
Lucas landete hart. Ein stechender Schmerz durchzuckte augenblicklich seine rechte Schulter, als er mit voller Wucht auf den Fliesenboden prallte. Er unterdrückte einen Aufschrei und biss sich fest auf die Unterlippe, die sofort zu bluten anfing. Franklin hatte erst angefangen und würde so schnell nicht wieder aufhören, das wusste er. Er hörte bereits das verräterische Geräusch, das seine Strafe ankündigte. Ohne aufzublicken, wartete Lucas auf das, was nun folgen würde.
Lediglich dünner T-Shirt-Stoff trennte das peitschende Leder des Gürtels von seiner Haut. Lucas rollte sich auf dem Boden zusammen und versuchte, wenigstens mit den Händen sein Gesicht zu schützen. Brennender Schmerz überzog seinen Rücken, als ihn der Gürtel zwei, drei, vier Mal traf. Beim nächsten Schlag grub sich die Spitze des Verschlusses in das weiche Fleisch seines Oberarms – denn Franklin nahm immer dieses Ende, weil es mehr Schmerzen verursachte. Die Spitze bohrte sich in seine Haut, und als sie wieder zurückgezogen wurde, riss sie einen Fetzen mit.
Lucas schrie auf. Warmes Blut rann seinen Arm hinab. Für einen Moment fühlte er einen höllischen Schmerz, der aber durch den nächsten harten Treffer in den Hintergrund rückte.
»Hör auf zu schreien, sonst gebe ich dir gleich einen Grund dafür«, drohte Franklin und holte ein weiteres Mal aus.
Lucas biss die Zähne zusammen und stöhnte laut. Rasend schnell breitete sich die Pein auf seiner Haut aus und er glaubte, sie würde in Flammen stehen. Das harte Leder hinterließ heiße Striemen, die ihm die Tränen in die Augen trieben.
Der zehnte Schlag streifte seinen Nacken, dann war alles vorbei. Zumindest dachte er das. Im nächsten Augenblick zerrte Franklin erneut an seinen Haaren und zog ihn auf die Beine. Lucas versuchte, sich zu befreien, aber sein Peiniger war stärker. Franklins Griff wurde grober; er schleifte ihn an den Haaren bis zur Kellertür.
Lucas stieß einen leisen Schrei aus, denn nun brannte auch seine Kopfhaut wie Feuer. Aus den Augenwinkeln schielte er zu Franklin, der ihn zuerst losließ, danach die Tür öffnete und schließlich zu einem Tritt ausholte. Der Fuß traf Lucas direkt in den Magen. Eine neue Welle des Schmerzes griff nach ihm. Sein Magen krampfte sich zusammen und ihm blieb kurzzeitig die Luft weg.
»Los, steh auf«, befahl Franklin und machte einen Schritt zur Seite. »Wird’s bald? Runter in den Keller mit dir!«
Wie in Trance schaffte es Lucas auf die Knie und stützte sich mit den Händen ab. Er versuchte, einmal tief durchzuatmen, als er auch schon an den Schultern gepackt und nach oben gezerrt wurde. Franklin schubste ihn zur Treppe, die Lucas stolpernd nach unten taumelte. Vorbei an Vorratskammer, Wäscheraum, Weinkeller und dem Zugang zur Garage erreichten sie sein Zimmer. Es lag am Ende des halbdunklen Ganges. Dort angekommen schleuderte er Lucas aufs Bett und blieb davor stehen.
Franklin knirschte mit den Zähnen und rieb sich mit der Hand die rechte Faust. Er war bereit zuzuschlagen, was er jedoch nicht tat. »Deine Privilegien sind gestrichen. Kein Fernseher, keine Großeinkäufe und keine Freizeit mehr. Verstanden?«
Panisch blickte Lucas ihn an und schien in ein tiefes Loch zu fallen. Für einen Moment waren alle Schmerzen vergessen. Er hatte doch nichts Falsches getan. »W… warum?«
»Das fragst du noch?« Zornig wandte sich Franklin dem Fernseher zu, der auf einem kleinen Holzhocker stand, holte aus und trat mit dem Fuß einmal kräftig gegen das Glas des Röhrengeräts. Es kippte nach hinten und es gab einen lauten Knall. Einige Plastikteile der Ummantelung flogen durch die Luft und der Bildschirm zeigte einen deutlichen Riss.
Mit Tränen in den Augen sah Lucas zu und ballte die Hände zu Fäusten.
»Ich sage dir, warum. Weil du dich ohne Erlaubnis mit den Lancfords unterhalten und ihnen Lügen aufgetischt hast.«
»Aber sie haben mich doch gefragt«, wehrte sich Lucas mit bleierner Stimme.
»Du kannst froh sein, dass Susanne immer wieder dazwischen gegangen ist. Ich war von Anfang an dagegen, und das wusste sie. Sie wird ebenfalls mit den Konsequenzen leben müssen. Ich habe vorhin beschlossen, dass du die Lancfords nie mehr sehen wirst. Haben wir uns verstanden? Mir wird schon eine vernünftige Ausrede einfallen. Künftig wirst du hier auf unserem Grundstück bleiben. Auch keine Arbeit mehr im Golfklub. Mr Talbot werde ich morgen früh als Erstes feuern. Und wage es nicht noch einmal, irgendjemandem Lügenmärchen zu erzählen. Das ist meine letzte Warnung. Ich kann andere Saiten aufziehen. Du lebst nur, weil Susanne es so will.«
Lucas atmete schneller. Sein Puls raste und er musste sich zusammenreißen. Wut und Verzweiflung übermannten ihn. »Aber ich habe nur das gemacht, was ihr immer sagt: gelogen.«
»Ach ja?« Franklin hob skeptisch die Augenbrauen und ließ die Fingerknöchel knacken. »Und wie kommst du auf die Idee, du würdest bald nach Oxford gehen und studieren? Damit hast du Joanne neugieriger gemacht, als sie es eh schon ist. Und auch noch Oxford. Es war ein Fehler, die Lancfords einzuladen, aber ich kann es nicht mehr ändern. Vergiss niemals: Du lebst nur noch, weil Susanne es will. Du existierst nicht mehr.« Er schnaubte. »Ich kann dich jederzeit nicht nur auf dem Papier für tot erklären. In den nächsten Tagen will ich dich nicht mehr sehen.« Franklin drehte sich um und ließ Lucas allein zurück. Hinter sich knallte er die Tür zu, anschließend fluchte er lauthals, bis er im Erdgeschoss verschwunden war.
Lucas rollte sich wie ein Embryo auf dem schmalen Bett zusammen. Die Wunde am rechten Oberarm klopfte dumpf. Wenigstens blutete sie nicht mehr und tat im Verhältnis zu den Striemen auf dem Rücken kaum noch weh. Diese spürte er bei jedem Atemzug, als würde ein glühender Eisenstab auf seine Haut gedrückt werden. Lucas biss die Zähne zusammen. Er hatte den Gürtel schon oft gespürt, aber bisher nie so heftig.
»Ich habe nichts Falsches getan«, nuschelte er leise und zog die Nase hoch. Tränen der Angst und der Verzweiflung tropften auf sein Kissen. Er verstand die Welt nicht mehr. Seit er bei den Pattons wohnte, hatte er schon so viele Lügengeschichten über sich gehört, dass er nicht einmal selbst wusste, was die Wahrheit war und was nicht. Er hatte vorhin den Lancfords nur das erzählt, was sie hatten hören wollen. Daran empfand er nichts Verächtliches, aber genau dafür hatte Franklin ihn bestraft.
Wie sehr er sich an einen anderen Ort wünschte. Am liebsten wäre er damals mit seinen Eltern bei dem Verkehrsunfall gestorben. Alles war besser, als von den Pattons andauernd schikaniert und verprügelt zu werden. Sie hielten ihn wie einen Sklaven im Keller fest; im Wissen, dass er nichts gegen sie unternahm. Wie auch? Wer würde ihm schon glauben? Er existierte nicht mehr, er wusste nicht einmal mehr, wer er wirklich war.
Lucas schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Inzwischen kannte er sich mit Schmerzen aus und konnte mit ihnen umgehen. Immerhin lebte er mit den Prügelattacken seit vielen Jahren. Einfach liegen bleiben und sie mit Gewalt verdrängen.
Er fügte sich in sein Schicksal, doch eines Tages, das schwor er bei seinen toten Eltern, würde er von hier verschwinden. Irgendwann, wenn er den Mut dazu fand. Vielleicht hätte er es auch längst getan, wenn es nicht Jonathan Comey geben würde. Dieser Teufel würde ihn finden und zurückbringen, vielleicht sogar umbringen.
Jonathan Comey, der skrupellose Geschäftspartner der Familie Patton. Käuflich für jeden, der es sich leisten konnte. Lucas hatte ihn bisher nur fünf Mal gesehen, aber jedes Mal lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. In dem kalten Blick aus den rauchgrauen Augen standen Bestechlichkeit und Lügen geschrieben. Ihm hatte es Lucas zu verdanken, dass er nun bei Susanne und Franklin lebte. Mehr wusste er nicht. Er kannte nicht einmal die Vornamen seiner verstorbenen Eltern.
Ihm würde etwas einfallen, um zu verschwinden, überlegte Lucas und verlor sich immer mehr in den unterschiedlichen Szenarien einer möglichen Flucht. Darüber glitt er langsam in einen leichten Schlaf, in dem ihn weder die Schmerzen noch seine Verzweiflung erreichten.

.

Kapitel 2
Porträt eines Engels

Zwei Tage später schlich sich Lucas in die Garage. Der anthrazitfarbene Porsche war nicht da, nur die protzige Limousine und Franklins Geländewagen standen an ihrem Platz. Das bedeutete, die Pattons waren endlich weggefahren. Sie würden erst spät zurück sein. Die Benefizveranstaltung, zu der Joanne Lancford in letzter Minute eingeladen hatte, sollte laut Einladungstext mit einem Mitternachtsfeuerwerk enden. Jetzt war es fünf Uhr nachmittags. Auf ihn warteten mindestens acht Stunden, in denen keiner etwas von ihm verlangte oder ihn vermisste. Lucas hatte sturmfreie Bude.
Er lief in sein Zimmer und kramte aus dem Schrank seinen persönlichen Schatz hervor. Zuerst die kostbaren Kohlestifte, die er sicher in einer Holzschachtel aufbewahrte, dann folgten die Zeichenmappe und der Skizzenblock. Beides hatte er zum achtzehnten Geburtstag von Rosalin geschenkt bekommen – heimlich, versteht sich. Susanne und Franklin wussten nichts von seinem Hobby, und das sollte auch so bleiben. Auf seine Zeichenutensilien achtete er besonders, daher versteckte er sie in einem Schrank, den nur er öffnete und schloss. Ebenso hütete er jedes einzelne bemalte Blatt mit äußerster Sorgfalt und verschwendete kein einziges.
Auch wenn Lucas nicht zur Schule gegangen war und schamlos ausgenutzt wurde, hatte man ihm eines niemals nehmen können: das Zeichnen. Glaubte er Rosalin und Maximilian, besaß er ein angeborenes Talent dafür. Er konnte sich auf jeden Fall stundenlang in ein Motiv vertiefen, liebte jeden Strich, den der Kohlestift auf dem Papier hinterließ; das raue Kratzen, wenn er das Papier damit schwärzte und daraus allmählich ein Bild entstand. Etliche hatte er angesammelt und sie sorgfältig in seiner Mappe verwahrt. Darunter befanden sich viele Landschaftsbilder, aber seine neuste Leidenschaft galt Engelsstatuen.
Auf dem West Drayton Friedhof, nur zwanzig Minuten zu Fuß von der Villa entfernt, fand er wunderschöne Steinmetzarbeiten. Seine Besuche waren zwar selten, aber zwei Engelbilder hatte er schon zeichnen können. Er kannte auch bereits sein nächstes Motiv, das er bei seinem letzten Besuch zufällig entdeckt hatte. Das Grab lag versteckt im hinteren Teil des Friedhofes.
Lucas schnappte sich den Skizzenblock und die Schachtel mit den Kohlestiften und stopfte beides in einen alten Stoffrucksack, an dem seitlich die Nähte leicht gerissen waren. Er setzte ihn nicht auf, denn die Striemen auf seinem Rücken waren noch nicht verheilt. Zum Schluss nahm er eine Wasserflasche, die auf dem Boden stand, und verstaute auch sie. Da der Sommer in England Einzug hielt, war es draußen warm.
Froh, dem dunklen Zimmer und dem Haus entfliehen zu können, schaltete er das Licht aus und schloss die Tür. Sein Schlafraum – als Zimmer konnte er diese kleine Abstellkammer von zehn Quadratmetern nicht bezeichnen – besaß nicht einmal ein Fenster; nur einen schmalen Lüftungsschacht, der im hinteren Teil des Gartens endete. Nach einem Abstecher in die Vorratskammer, in der eine Packung Schokoladencookies in den Rucksack wanderte, ging er zurück in die Garage. Von dort führte eine Tür neben der eigentlichen Garageneinfahrt auf den großen Hof im vorderen Bereich der Villa. Sie war wie alle Türen und Fenster im Haus mit der Alarmanlage verbunden. Lucas kannte den Code und im Nu hatte er die richtige Kombination auf dem kleinen Zahlenfeld eingetippt und bestätigt. Ein grünes Lämpchen leuchtete auf und gab ihm den Weg frei. Vorsichtshalber aktivierte er die Alarmanlage wieder, als er draußen stand.
Mit einem letzten Blick zur geschlossenen Garage rannte er nach hinten in den Garten. Dort befanden sich der Swimmingpool und ein Gästehaus. Neben dem Haus grenzte nur wenige Meter entfernt der zweieinhalb Meter hohe Eisenzaun an, der an dieser Stelle von Büschen und einer großen Esche verdeckt war. Mit Schwung sprang er in die Luft, griff nach einem tief hängenden Ast und zog sich hoch. Problemlos konnte er auf der anderen Seite der Eisenstäbe nach unten klettern.
Es hatte schon gewaltige Vorteile, wenn man täglich das Grundstück pflegte: Man kannte es mit der Zeit so gut wie die eigene Westentasche und fand versteckte Lücken und Wege, die andere nicht einmal wahrgenommen hätten, selbst wenn sie genau hinsehen würden.
Lucas verlor keine wertvolle Zeit. Statt am Rand der Landstraße entlang zu laufen, nahm er eine Abkürzung über einen alten Wanderweg. Damit sparte er fünf Minuten Fußweg.
Schließlich erreichte er den West Drayton Friedhof. Der eiserne Rundbogen mit dem Namenszug begrüßte ihn, und sofort fühlte er sich zu Hause. Hierher verirrten sich nicht viele Menschen. Hier war er allein. Allein mit seinen Gedanken, seinen Wünschen und seinen Bildern. Andere hätten es wohl makaber gefunden und ihn ausgelacht, doch für Lucas war es das Paradies. Für ihn gab es keinen schöneren Ort als diesen Flecken Erde mit den halb verwitterten Grabsteinen. Die Vögel zwitscherten, Wildblumen wuchsen überall und das wuchernde Gras lud geradezu zum Verweilen ein. Sich ins Gras fallen zu lassen, die Augen zu schließen und die Welt draußen auszusperren.
Lucas passierte das Eingangstor, wandte sich nach links dem älteren Teil des Friedhofes zu. Er wusste genau, welchen Engel er zeichnen wollte, doch die Suche dauerte länger, weil er einigen Besuchern auswich. Endlich stand er vor der erhabenen Steinstatue. Der kniende Engel reckte einen Arm mit einem Schwert gen Himmel.
Die Figur aus weißem Kalkstein saß auf einer grauen Steinplatte und ragte fast zwei Meter in die Höhe. Sie gehörte zu einem alten Familiengrab, dessen Namen er jedoch nicht lesen konnte. Das lag nicht an der verwitterten Schrift, er konnte tatsächlich nicht lesen. Lucas erkannte, dass jemand erst kürzlich darin beigesetzt worden sein musste. Zu den Füßen des Engels ruhten ein verwelkter Rosenkranz und ein paar Blumensträuße. Für einige Momente rang er mit dem Gedanken, sich ein neues Motiv zu suchen, aber wann würde er schon wieder die Zeit und Möglichkeit bekommen, hierher zu flüchten. Daher beschloss er, zu bleiben.
Nachdem er sich einmal umgesehen hatte und niemanden bemerkte, setzte er sich in ein paar Metern Entfernung ins kniehohe Gras. Es dauerte nicht lange, bis er völlig ins Zeichnen vertieft war. Die Stärke und Grazie, die der Engel ausstrahlte, nahmen ihn gefangen.
»Das hatte ich mir auch immer gewünscht.«
Lucas fuhr zusammen und sah von seiner Zeichnung auf. Neben ihm entdeckte er ein Paar schwarze Sneakers und Beine, die in einer schwarzen ausgefransten Jeans steckten. Neugierig geworden wanderte sein Blick nach oben. Es folgte ein enges blaues T-Shirt mit weißen Druckbuchstaben. Ein durchtrainierter Oberkörper zeichnete sich darunter ab, die Arme leicht gebräunt. Als er in das Gesicht des Fremden sah, staunte er nicht schlecht. Ebenmäßige sanfte Gesichtszüge wurden von kurzen blonden Haaren eingerahmt. Schmale Lippen formten sich zu einem freundlichen Lächeln. Aus rehbraunen Augen sah ihn der fremde junge Mann an. In der einen Hand hielt er eine einzelne rote Rose.
So einem attraktiven Mann war Lucas noch nie begegnet, und er starrte ihn für einen Moment mit unverhohlener Neugier an. Der Schreck von eben war vergessen.
Doch schnell kehrte seine Unsicherheit zurück. Er begann, sich wieder auf seine Zeichnung zu konzentrieren und versuchte, den jungen Mann nicht weiter zu beachten.
Dieser blieb stehen und schien sich offensichtlich für sein Bild zu interessieren. Lucas konnte nicht weiterzeichnen und beschloss, eine Pause zu machen.
»Was hast du dir denn immer gewünscht?«, fragte Lucas leise und war erstaunt, weil er die Initiative ergriff. Nebenbei spielte er mit dem Stift in der Hand, seinen Blick auf den Block gerichtet. Er gab vor, seine Zeichnung genauer zu studieren und machte halbherzige Verbesserungen.
»Dass ich zeichnen könnte. Bis jetzt langt es gerade mal zu unerkennbaren Strichmännchen.« Der Mann lachte über seinen Witz, und Lucas lachte in sich hinein.
»So schwer ist das nicht. Man muss nur wissen, wo man die Arme und Beine richtig ansetzt. Und zu lang und zu kurz dürfen sie auch nicht sein«, sagte Lucas und hob zögerlich den Kopf. In den Augen seines Gegenübers spiegelte sich echtes Interesse wider. Verlegen schlug sein Herz schneller. So viel Aufmerksamkeit war er nicht gewohnt. Seine Zeichnungen kannte bisher niemand, abgesehen von Rosalin und Maximilian.
»Siehst du, da fängt es schon an. Proportionen sind für mich ein Fremdwort.« Der junge Mann zwinkerte verschmitzt. »Im schlimmsten Fall käme bei mir ein dreiarmiges Monster mit acht Beinen, sechs Augen und dreißig Fingern heraus, das jedes kleine Kind zu Tode erschreckt. Mal im Ernst: Das sieht richtig professionell aus, was du da machst. Studierst du Kunst?«
Lucas schluckte. »Das … das ist nur ein … ein Hobby.«
»Quatsch keinen Scheiß! Das ist megahammergeil.« Ohne zu fragen, ließ er sich neben Lucas ins Gras fallen und schnappte sich den Block. Er hielt ihn in die Höhe und blickte abwechselnd von der Zeichnung auf die Engelsfigur und wieder zurück. »Für einen Hobbyzeichner hast du eine Menge Talent. Das weißt du hoffentlich.« Er reichte den Skizzenblock dem sprachlos gewordenen Lucas zurück.
Wollte der Fremde ihn aufziehen oder nur nicht kränken? Lucas war sich völlig unsicher. Er spielte wieder mit dem Kohlestift.
»Bislang habe ich noch niemanden gesehen, der extra auf einen Friedhof geht, um dort zu zeichnen.«
Lucas zuckte mit den Schultern.
»Egal. Dafür hatte ich heute Glück dich zu treffen.« Es folgte ein freches Augenzwinkern. »Du solltest dir echt überlegen, es nicht nur hobbymäßig zu machen. Das sieht richtig professionell aus.«
Bei diesen Worten spürte Lucas die Hitze in die Wangen schießen. Es war ein seltsames, gleichzeitig aber auch ein wunderschönes Gefühl. Komplimente waren für ihn etwas Fremdes. Am liebsten hätte er gesagt, dass er nur gern zeichnete, mehr nicht. Für ihn war es lediglich ein Stück Freiheit.
»Sag mal, zeichnest du auch Menschen?«, fragte der junge Mann und schielte immer wieder auf Lucas’ Block. »Also nicht nur Engelfiguren.«
»Habe es noch nie ausprobiert.«
»Wie wäre es, wenn ich mich als Versuchsobjekt zur Verfügung stelle?«
Lucas stierte ihn an. Hatte er sich vielleicht verhört?
»Komm schon, einen Versuch ist es wert.« Der Unbekannte grinste frech.
Inzwischen glaubte Lucas, seine Wangen würden in Flammen stehen.
»Wenn du keine Fremden malen willst … ich bin Ben.« Dabei streckte er ihm die Hand entgegen. »Natürlich bezahle ich auch dafür.«
»Ich … ich bin … Lucas«, erwiderte er verhalten und schüttelte die Hand.
»Hi, Lucas. Nun sind wir keine Fremden mehr. Also, was sagst du?« Ungeduldig musterte Ben Lucas, der leicht beschämt den Kopf abwandte und auf seine Finger sah.
Passierte so etwas täglich?, fragte er sich und biss sich auf die Unterlippe. Was sollte er antworten? Auf der einen Seite war er nervös und spürte allmählich einen Funken Angst aufsteigen. Instinktiv musste er an Franklins Drohungen denken. Kein Mensch durfte wissen, wer er war. Gespräche mit fremden Personen waren verboten. Andererseits begann er, die plötzliche Aufmerksamkeit zu genießen.
»Sorry«, sagte Ben. »Ich bin wohl mit der Tür ins Haus gefallen. Es interessiert mich eben. Weißt du, ich kenne nämlich keinen, der überhaupt das Wort ‚Zeichnen’ richtig buchstabieren kann. Du sollst nur wissen: Wenn du es ausprobieren willst, stehe ich dir zur freien Verfügung. Du darfst auch gern ein Monster aus mir machen. Nur keine Spinne … ich hasse Spinnen.«
»Das ist es nicht«, gab Lucas zu und war über seine Reaktion erstaunt. Innerlich musste er jedoch wegen des Spinnenkommentars schmunzeln. Obwohl er Ben nicht einmal fünf Minuten kannte, faszinierte er ihn. Er wirkte offen und ehrlich interessiert. Außerdem war er ein lustiger Typ. Ganz anders als die Freunde von Victoria, die ihn nur an der Nase herumführten und als persönlichen Dienstboten ausnutzten. Was hatte er schon zu verlieren? Franklin würde nie etwas davon erfahren. Somit nahm er die Herausforderung liebend gern an. »Na gut, du hast mich überredet.« Er blickte auf und in Bens strahlendes Gesicht.
»Wann? Gleich? Morgen?« Nun schien auch Ben nervös zu werden.
»Wenn du Zeit hast, gleich.«
»Super.« Ben wirkte erfreut. »Aber zuerst bringe ich die Rose an den Ort, an den sie gehört.« Er stand auf und lief auf das Familiengrab mit dem Engel zu. Schweigend legte er die rote Rose auf die Steinplatte, kam zurück und blieb erwartungsvoll vor Lucas stehen.
Plötzlich fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Er kam sich vor wie ein Grabschänder, weil er ausgerechnet den Engel dieses Familiengrabes gezeichnet hatte.
Ben bemerkte seine Beklommenheit. »Vor zwei Wochen ist meine Großtante Leonora gestorben. Ich war leider verhindert und konnte nicht zur Beerdigung kommen. Mach dir bloß keine Gedanken darüber. Der Engel sieht klasse aus. Meine Tante hätte sich gefreut.«
»Ich wollte nicht …«, setzte Lucas an, wurde aber sofort unterbrochen.
»Du hast doch nichts getan, nur den Engel gezeichnet. Hake es ab.« Er sah sich um. »Wo soll ich mich hinsetzen?«
Mit einem mulmigen Bauchgefühl deutete Lucas auf eine Stelle im Gras, direkt vor ihm. »Am besten dort.« Er beobachtete Ben, der seinen weiteren Anweisungen nachkam und ihn immer wieder anlächelte. Bens braune Augen funkelten vor Aufregung, blickten ihn oft mit einem frechen Glitzern an und hinterließen auf Lucas’ Haut ein angenehmes, warmes Prickeln.
Er hätte nie damit gerechnet, einmal so einen hübschen Mann zu zeichnen. Sofort schämte er sich für diesen Gedanken. Er versuchte, sich zu konzentrieren, aber er hatte nicht einmal angefangen, da fing seine Hand vor purer Erregung an, zu zittern. Lucas hatte ziemlich viel Mühe, den Stift ruhig zu halten und sich gleichzeitig nichts anmerken zu lassen. Er schluckte einen wachsenden Kloß im Hals hinunter und leckte sich über die trockenen Lippen. »Bleib einfach sitzen. Ganz ruhig und natürlich. Ich gebe mein Bestes, dass du später nicht wie eine haarige Spinne aussiehst.«
»Das will ich auch hoffen.«
Sie lachten.
Wenig später flog sein Kohlestift wie selbstverständlich über das cremefarbene Papier. Die ersten Striche waren noch ein wenig unbeholfen, weil Bens Blick ihn ablenkte. Aber langsam erschienen die ersten Konturen und schließlich machte es ihm Spaß. Er wurde sicherer und ließ sich nicht mehr so leicht aus der Fassung bringen. Nach und nach übertrug er Bens Konterfei auf seinen Skizzenblock.
Heute war der schönste Tag in seinem Leben. Er durfte malen und dazu noch so einen gut aussehenden Mann. Und während das Bild allmählich Formen annahm, verspürte Lucas ein sanftes und wohliges Kribbeln auf der Haut. Es wanderte von seinen Händen über die Arme, über den Rücken und zum Schluss über den ganzen Körper. Es fühlte sich unglaublich gut an, als würde jemand mit einer Feder über seine Haut streicheln. Dabei vertiefte er sich immer mehr in seine Arbeit und bekam überhaupt nicht mit, dass es dämmerte. Als er fast schon fertig war – nur noch die wunderschönen funkelnden Augen fehlten –, ertönte jäh eine schrille Melodie.
»Mist, mein Handy.« Ben holte hektisch sein Smartphone hervor. Er stöhnte, bevor er den Anruf entgegennahm.
Der Zauber, der eben unsichtbar zwischen ihnen in der Luft geschwebt hatte, verflog. Zugleich fühlte Lucas die Ernüchterung mit einem Schlag. Er hatte Angst, dass gleich alles vorbei sein würde, gerade, als es Spaß machte. Umso neugieriger lauschte er dem Telefonat.
»Muss das sofort sein?«, fragte Ben verärgert und stand auf.
Lucas blickte ihn an und wünschte sich, dass er nicht gehen musste. Inzwischen genoss er Bens Gesellschaft und das Bild war auch noch nicht fertiggestellt.
»Okay. Wenn es sein muss.« Ben seufzte laut und schüttelte den Kopf. »Ich komme schon, aber vorher muss ich mich noch umziehen.« Es folgte eine Pause. »Ja, verdammt noch mal. Bis gleich.« Er beendete das Gespräch und steckte das Smartphone zurück in die Hosentasche. »Sorry. Ich muss leider gehen. Man wartet auf mich. Ich habe völlig die Zeit vergessen. Lass uns morgen weitermachen, und zeig es mir erst, wenn es fertig ist. Vorher will ich es nicht sehen. Ist achtzehn Uhr okay?« Ohne Lucas zu Wort kommen zu lassen, drehte er sich um und rannte in die Richtung, in dem sich der Parkplatz befand. Doch bevor er hinter einer dichten Reihe von Fichten verschwand, winkte er zum Abschied und war schließlich nicht mehr zu sehen.
Mit einem Stich in der Magengegend blickte Lucas einige Minuten auf die Stelle, an der er Ben aus den Augen verloren hatte, und wünschte ihn sich wieder zurück. Er hätte gelogen, wenn er über das abrupte Verschwinden nicht enttäuscht gewesen wäre. Für ihn war es in diesem Moment jedoch mehr als das. Der einzige Mensch, der ihn absolut unvoreingenommen angesprochen und fast schon auf magische Weise fasziniert hatte, denn eine andere Erklärung, was er beim Zeichnen von Bens Gesicht gefühlt hatte, gab es nicht, war plötzlich genauso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Hatte er womöglich etwas Falsches getan?
Nur widerwillig dachte er an das Telefongespräch zurück. Es war der Anruf gewesen, der Ben vorzeitig hatte gehen lassen, aber innerlich fühlte es sich nicht so an. Obgleich er den Grund kannte, gab er sich die Schuld dafür.
Bens freche und impulsive Art hatte ihn in seinen Bann gezogen. Bisher hatte Lucas niemals Freunde gehabt. Seine Gesellschaft hatte die Sehnsucht in ihm geweckt, Zeit mit Freunden zu verbringen. Mit ihnen ungezwungen zu reden, zu lachen und sich zu freuen. Dass er die Zeit während des Malens genossen hatte, konnte Lucas nicht leugnen. Es war, als wäre er in ein Paralleluniversum eingetaucht, in dem er nur ein junger Mann war, in dem Susanne und Franklin und die Gegenwart nicht existierten. Darin konnte er tun und lassen, was er wollte. Was alle jungen Leute tun konnten: frei sein.
Traurig senkte Lucas den Kopf und sah in Bens Gesicht. Fast schon detailgetreu hatte er ihn auf dem Papier festgehalten. Besaß er vielleicht wirklich ein natürliches Talent?
Bens Lächeln und die kleinen Fältchen um die Augen herum nahmen ihn wieder gefangen. Wie in Trance hob er den Stift erneut an und beendete das Bild aus seinem Gedächtnis heraus.
Diesen Blick aus den glänzenden Augen würde er so schnell nicht vergessen.
Als er fertig war und sich sein Werk betrachtete, fiel Lucas wieder ein, dass er in nächster Zeit keine Zeit mehr für das Zeichnen haben würde. Er konnte auch Ben nicht wiedersehen, so sehr er sich das auch wünschte. »Und ich hätte es dir gern persönlich geschenkt«, flüsterte er.
Plötzlich hatte er eine Idee, die er auch gleich in die Tat umsetzte. Ben würde sein Bild bekommen.

Drei Tage später schnappte sich Lucas gähnend den Teller aus dem Kühlschrank und stellte ihn nebenan auf die Arbeitsplatte. Danach folgte noch die Flasche kalter Cola, auf der ein gelbes Post-it mit seinem Namen klebte. Rosalin hatte wie immer an ihn gedacht. Sie und Maximilian hatten heute ihren freien Abend.
Beim Anblick des vollen Tellers lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Das Käsesandwich mit extra vielen Gurken zur Mittagspause lag schon Stunden zurück, inzwischen zeigte die Digitaluhr am Herd neun Uhr abends. Zeit, um etwas Richtiges zu essen, zu duschen und schlafen zu gehen.
Rosalin hatte zwei Scheiben Rinderfilet und eine große Portion Mais mit Erbsen und roter Paprika vom Abendessen für ihn aufgehoben. Lucas schob den Teller in den Mikrowellenherd und stellte die Zeituhr auf drei Minuten. Indes holte er sich Besteck aus der Schublade und lief zum Vorratsschrank, der neben der Tür zum Flur stand. Rosalin deponierte dort für ihn Süßigkeiten hinter einer Reihe von Mehl- und Zuckerdosen. Mit geübtem Griff zog er eine Plastiktüte heraus, in die sie für ihn Schokoladenriegel und Gummibärchen gepackt hatte. Sogar an seine Lieblingssorten hatte sie gedacht.
Lucas gab es sich gegenüber nur ungern zu, aber er vermisste die Großeinkäufe. Waren sie doch für ihn die einzige Möglichkeit, den Pattons wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen. Aber er wusste ebenso gut: Sobald sich Franklin wieder beruhigt hatte und sich Rosalin über das Fehlen eines starken Helfers beim Einpacken und Tragen beschweren würde, würde er wieder mitgehen dürfen.
Ein Ping kündigte an, dass sein Essen warm war. Als er mit dem Teller, der Flasche und den Süßigkeiten im Keller verschwinden wollte, vernahm er Stimmen, die seine Aufmerksamkeit weckten. Neugierig geworden schlich er in den Flur. Er hörte Franklin schreien und Susanne hysterisch keifen. Beide waren in Franklins Arbeitszimmer. Für einen Moment haderte er mit sich: Sollte er heimlich lauschen oder lieber in sein Zimmer gehen? Er entschied sich fürs Erste, auch auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden und womöglich eine Tracht Prügel zu kassieren.
Er schlich vom Flur weiter in die große Eingangshalle. Schräg gegenüber lag Franklins Arbeitszimmer, dessen Tür einen Spaltbreit offen stand. Ein schmaler Lichtstrahl fiel auf die hellen Marmorfliesen.
»Das ist verrückt. Du bist verrückt! Die Tabletten haben wohl deine Gehirnzellen absterben lassen. Weißt du denn überhaupt, was du da sagst? Das ist gefährlich.« Franklin sprach in abfälligem Ton.
»Lass gefälligst die Tabletten aus dem Spiel«, sagte sie verärgert. Sie fing an, im Zimmer unruhig auf- und abzulaufen; ihre Stöckelabsätze verrieten das. »Glaub mir, ich habe es mir genau überlegt. Außerdem habe ich dich seit unserem Umzug immer wieder gewarnt. Das weißt du. Irgendwann würde jemand nachhaken und …«
»Aber das ist noch nicht passiert.« Franklins Stimme wurde sachlich. »Du malst den Teufel an die Wand, Sue. Mr Talbot ist gefeuert und der neue Hausmeister weiß nichts. Und falls sich diese neugierige Schnepfe Joanne Lancford wirklich erkundigt, fällt dir schon eine passende Ausrede ein. Du bist doch sonst um keine verlegen. Erinnere dich nur an Peter.«
»Der hat mit der Sache nichts zu tun«, rief sie.
»Ach nein? Warst du mit ihm oder ich …«
Lucas hatte genug mitbekommen. Der Hunger war ihm vergangen. Trotzdem nahm er das Essen und die Colaflasche mit in sein Zimmer. Den Beutel mit den Süßigkeiten versteckte er zuvor wieder an Ort und Stelle.
Seufzend setzte er sich auf sein Bett. Den Teller stellte er auf den Holzhocker ab, auf dem einmal sein Fernseher gestanden hatte. Es war immer dasselbe. Ein wenig wünschte er sich, er hätte seiner Neugier nicht nachgegeben und wäre sofort in den Keller gegangen. Wieder einmal hatte Franklin ihn mit einem Satz mitten ins Gesicht geschlagen, ohne ihn zu berühren, ohne überhaupt zu wissen, dass er da war. Wieder einmal wurden Lügen um ihn gesponnen, damit niemand eine Wahrheit erfuhr, die Lucas nicht einmal selbst im vollen Ausmaß kannte und verstand.
Jeden Tag hatten Franklin und Susanne nur Beleidigungen für ihn übrig. Er schuftete täglich für sie und als Belohnung erhielt er lediglich diesen kalten Raum, der nicht größer war als eine Abstellkammer. Sie verboten ihm, das Haus zu verlassen, er durfte mit niemandem sprechen, niemand sollte ihn sehen. Vor allem hatte er keine Freunde. Wenn es wenigstens nur einen Freund gäbe. Jemanden, mit dem er reden konnte und der ihm zuhören würde. Einen Freund, mit dem er Witze machen und zusammen Spaß haben konnte. Mit ihm einfach alles tun, was Victoria und Samuel mit ihren Freunden taten.
Stattdessen war er jeden Tag allein.
Ein Bild stahl sich vor sein inneres Auge. Er musste lächeln. Für einen Moment erinnerte er sich an den Tag zurück, an dem es für kurze Zeit anders gewesen war.

.

Kapitel 3
Ein heimliches Treffen

Ben stieg aus der Dusche und schlang sich das frische Badetuch um die Hüften. Feiner Nebel waberte durch das Badezimmer. Er lief zum Waschbecken, über dem ein großer Spiegel hing, und fuhr mit der Hand über das beschlagene Glas. »Du bist verrückt. Jetzt hast du es doch getan«, sagte er zu seinem Konterfei, das ihn mit einem frechen Grinsen anstarrte.
Trotzdem. Es hatte Spaß gemacht, obwohl es nicht geplant gewesen war. Bei Viccis begehrenswertem Frauenkörper hatten schlichtweg seine Hormone übernommen, redete er sich ein. Ehe er sich versah, hatte die Blonde ihn auf sein Bett geschubst und war über ihn hergefallen. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihn zu verführen. Der Gedanke entlockte ihm jedoch kein weiteres Grinsen, sondern eher ein resigniertes Kopfschütteln.
»Ben? Bist du endlich fertig?« Ihre Stimme drang durch die geschlossene Tür. »In einer Stunde beginnt meine Party. Die Gäste sind schon auf dem Weg und nur …«
»… das Geburtstagskind fehlt. Eine Minute noch.« Ben griff nach der Tube Haargel und fuhr sich anschließend mit den Händen durchs feuchte Haar. Er benutzte das Deo, putzte sich noch rasch die Zähne und am Ende durfte ein Spritzer seines neusten Eau de Toilette nicht fehlen. Jetzt war er fertig.
»Ab mit dir unter die Dusche.« Mit diesen Worten kam er aus dem Badezimmer. Er lief zwei Schritte über den Flur und blieb ihm Türrahmen seines Schlafzimmers stehen. »Das Bad ist frei.«
»Wer hat denn diese Zeichnung gemacht?« Vicci saß nur mit seinem olivgrünen T-Shirt bekleidet auf dem zerknüllten Bettlaken und hielt ein Blatt cremefarbenes Papier in der Hand. Sichtlich angetan ruhte ihr Blick auf seinem Porträt.
»Kann ich dir nicht sagen.« Ben kam zu ihr und setzte sich neben sie. Behutsam nahm er die Zeichnung an sich und blickte auf sein Antlitz.
In den vergangenen Tagen hatte er sich das Bild immer wieder angesehen. Er war begeistert, wie detailgetreu und lebendig er auf dem Papier wirkte. Das Schönste daran waren die Augen. Sie versprühten förmlich Freude und Begeisterung. Ben erinnerte sich deutlich an den warmen Sommerabend zurück. Lucas hatte einfach im Gras gesessen und den Engel auf dem Familiengrab seiner Großtante gezeichnet. Gesprächig war er nicht gewesen, aber dafür hatte er ihn auf eine ganz eigene Weise fasziniert. Vielleicht wegen Lucas’ zurückhaltender Art? Oder, weil er einer der wenigen in London und Umgebung war, der ihn nicht erkannt hatte? Womöglich etwas von beidem. Ben wusste es nicht, und es spielte auch keine Rolle mehr. Lucas war am nächsten Abend nicht erschienen, und das sagte ihm alles, was er wissen musste. Allerdings hatte er für ihn das Porträt hinterlassen. Es steckte zusammengerollt zwischen den Fingern der Engelsfigur.
»Was heißt, du kannst es nicht sagen?«, fragte Vicci und riss ihn zurück in die Gegenwart. »Ich will auch so ein Porträt. Du kannst mir doch eines zum Geburtstag schenken.«
Seufzend blickte er sie an. »Das heißt, ich kenne nur seinen Vornamen. Außerdem habe ich den Maler rein zufällig getroffen. Normalerweise zeichnet er keine Menschen, bei mir hat er eine Ausnahme gemacht.«
Enttäuscht stand Vicci auf und fuhr sich mit den Fingern durch ihre lange blonde Haarmähne. »Nimm mich wenigstens bei deinem nächsten Fotoshooting mit. Das wäre das ideale Geschenk.« Sie beugte sich mit einem kecken Schmunzeln zu ihm herab und presste die Lippen fest auf seine. Indes wanderte ihre Hand zuerst über seine nackte Brust und schließlich nach unten, wo sie auf dem Handtuch unterhalb des Nabels liegen blieb.
Allerdings war Ben momentan nicht mehr in der Stimmung. Nur flüchtig erwiderte er ihren Kuss und schob sie bestimmt von sich. »Du wolltest duschen. Dein Geburtstagsgeschenk gibt es erst später.« Verschmitzt zwinkerte er ihr zu.
Vicci suchte, mit dem nackten Hintern wackelnd, ihre Klamotten und ihre Handtasche zusammen und verschwand kurz darauf im Badezimmer – das T-Shirt schon halb über den Kopf gezogen.
Ben löste den Blick von ihrem wohlgeformten Körper, erhob sich und legte das Porträt wieder auf den Nachttisch. »Ich glaube, ich lasse es einrahmen«, flüsterte er und machte sich auf den Weg zu seinem großen Kleiderschrank. Er nahm die ganzen fünf Meter der Wand ein. Die Vorderfront bestand aus Schiebetüren mit mannshohen Spiegeln. Gedankenverloren schob er die ersten beiden Türen auf und kramte sich durch seine Designerkleidung. Das meiste davon waren Geschenke von Freunden und der Familie, aber auch von den Modedesignern selbst. Sie sahen es gern, wenn er sich mit ihrem Hemd oder ihrer Hose in der Öffentlichkeit zeigte und somit Werbung machte. Privat bevorzugte Ben einen legeren Kleidungsstil. Am liebsten Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Genau dafür entschied er sich. Er ging ja lediglich auf eine private Party. Am Ende trug er eine Bluejeans, ein schwarzes T-Shirt und seine roten Sneakers. Nun wartete er nur noch auf Vicci, die sich sehr viel Zeit ließ.
Wenn Ben es sich recht überlegte, hatte er keine großartige Lust, mit Vicci noch ein weiteres Mal ins Bett zu gehen. Ihm musste dringend eine vernünftige Ausrede einfallen. Vor allem aber musste er ihr klar machen, dass es eine einmalige Sache zwischen ihnen gewesen war. Wenn sie sein Geheimnis erfahren würde, stünde es am nächsten Tag sicherlich in allen Klatschblättern Großbritanniens. Also musste er versuchen, sich zusammenzureißen und wie immer sein Spiel zu spielen.
Zumindest hatte Ben inzwischen genügend Erfahrungen gesammelt, wie er seine Pseudofreundinnen geschickt an der Nase herumführte, ohne dass jemals eine es mitbekommen hatte. Seine Vorstellungskraft war ein mächtiges Instrument, und er musste einfach nur an einen attraktiven Männerkörper denken. Wenn seine Mutter ihn nicht vor einer Woche bedrängt hätte, hätte er Vicci überhaupt nicht erst kennengelernt. Inzwischen bereute er es schon. Sie war nicht viel anders als jede Tochter aus gutem Hause: eingebildet, herablassend, bestimmend und absolut von sich überzeugt. Dabei war es ihm einerlei, ob sie die Tochter der Nachbarn war oder die Herzogin von Cambridge persönlich. Sie war und blieb eine Frau.
»Ich bin fertig.« Strahlend, mit Make-up im Gesicht und bekleidet mit engen schwarzen Hotpants und einem weinroten Spaghettiträgertop, kam Vicci aus dem Badezimmer. Ihre grauen Augen leuchteten. Sie begann vor ihm wie ein Möchtegernmodel zu posieren.
Ben seufzte innerlich. »Dann mal los.«

Bens Blick wanderte über die anwesenden Gäste. Die meisten Gesichter kannte er nicht, aber sie ihn. Vicci hatte ihn jeder Freundin vorgestellt und natürlich mit ihm angegeben. Das war für ihn nichts Neues. Leider waren die Männer an diesem Abend deutlich in der Unterzahl. Zwölf Männer und viermal so viele Frauen.
Er überlegte, ob er wieder nach Hause zurücklaufen sollte. Von seiner Wohnung, die im Nebengebäude des Hauses seiner Eltern extra für ihn eingerichtet worden war, bis hierher hatte er auf sein Auto verzichtet. Wenn er schnell lief, wäre er in zehn Minuten in seinem Wohnzimmer und würde sich einen Actionfilm anschauen können. Mist. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass erst eine halbe Stunde vergangen war. Zu früh, um sich mit einer Ausrede davonzuschleichen. So saß er abseits der Gäste auf der Terrasse und beobachtete Vicci, die ihre Geschenke auspackte. Gelangweilt nippte er nebenbei an seinem Glas Whisky-Cola, mit einem Extraschuss Whisky.
Die große Terrasse war hell erleuchtet. Überall hingen bunte und weiße Partylichter. Ein DJ spielte die neusten Sommerhits und der Steinboden war rund um die Tanzfläche in eine wahre Kissenlandschaft verwandelt worden. Am Rand waren ein Buffet und daneben eine Bar aufgebaut. Der Barkeeper mixte auf Bestellung jeden beliebigen Cocktail.
»In einer Stunde bin ich verschwunden«, murmelte er und beschloss, sich in den Garten zurückzuziehen und sich ins Gras zu legen. Der Himmel war sternenklar – ein guter Abend, um Sterne zu beobachten. Gerade, als er die sechs Stufen zum Kiesweg hinunterlief, entdeckte er aus den Augenwinkeln eine Silhouette im Gebüsch. Er kam vorsichtig näher. Leise musste er nicht sein, denn die Musik war laut genug, um selbst die Alarmanlage zu übertönen, die diese Villa sicherte. Je näher er kam, desto mehr Details offenbarten sich ihm. Obwohl es dunkel war, reichten die Partylichter aus, um eine Gestalt hinter dem Stamm einer Eiche zu erkennen. Sie sah hinüber zur Terrasse und den Gästen.
Das war ein Spanner, überlegte Ben und beschloss, diesen zu stellen. Wie in einem Agentenfilm drehte er seitlich ab, um sich klammheimlich von hinten anzuschleichen und den Täter zu überraschen. Vorher stellte er sicherheitshalber noch sein Glas ab.
Fünf Schritte. Vier Schritte. Drei Schritte. Zwei Schritte. Er blieb stehen, versuchte, seine Nervosität zu ignorieren und …
»Ah …«, rief die Gestalt, als er sie an den Schultern packte, herumriss und sie gegen den Stamm presste. »Nicht schlagen. Bitte … nicht schlagen.«
Verdutzt starrte er den Mann an, der sich durch seine Stimme eindeutig als männlich herausstellte. Doch er schien offenbar zu Tode erschrocken und verängstigt. Er wehrte sich nicht einmal, unternahm auch keinen Fluchtversuch. Stattdessen duckte er sich und erwartete eine Tracht Prügel.
»Du bist kein Spanner«, stellte Ben nüchtern fest und ließ los.
»Nein … nein. Ich tu nichts und will nichts stehlen. Ich … ich wohne hier«, sagte die verängstigte Stimme.
Um besser sehen zu können, denn der Schatten der Äste verhinderte das, zog er sein Smartphone aus der Hosentasche. Mit geübten Fingern tippte er den Zahlencode ein und hielt den kleinen, beleuchteten Bildschirm so, dass er die Umrisse eines jungen Gesichts preisgab. Ein Gesicht, das er schon einmal gesehen hatte.
Im ersten Moment wusste Ben nicht, wie er reagieren sollte. Ihm war nach Lachen zumute, aber die Erkenntnis, dem Zeichner seines Porträts gegenüberzustehen, verwirrte ihn. Solche Zufälle gab es höchstwahrscheinlich so oft wie einen Sechser im Lotto. Schließlich packte ihn die Neugier. »Lucas? Lucas, bist du es wirklich?«, fragte er und steckte das Smartphone wieder ein. Er winkte dem jungen Mann, er solle ihm folgen. »Komm mal ins Licht.«
Als sie auf dem Kiesweg standen und die Partylichter ausreichten, um sich von Angesicht zu Angesicht erkennen zu können, entlockte ihm der verunsicherte Blick von Lucas ein breites Grinsen. »Das nenne ich mal eine glückliche Fügung des Schicksals.«
In Lucas’ Gesicht spiegelte sich nun ebenfalls die Erkenntnis wider. Die Angst schien aus seinem Körper zu weichen und er lächelte zögerlich. »Was machst du denn hier?«
»Das wollte ich dich auch fragen«, sagte Ben und konnte sein Glück nicht fassen. Vor nicht einmal zwei Stunden hatte er noch an ihn gedacht, und nun stand er unverhofft vor ihm. In diesem Augenblick war er froh, mit auf die Geburtstagsparty gegangen zu sein. »Weißt du was? Lass uns nach oben gehen. Wir holen uns was zu trinken und quatschen.«
Ben wollte sich schon umdrehen, als er Lucas’ Finger an seinem Unterarm spürte. »Geh allein. Ich bleibe hier.«
Wenn sich Ben nicht täuschte, schwang in Lucas’ Worten eine gewisse Verunsicherung und Angst mit. Und beides verstand er nicht. »Du hast wohl keine Lust auf Party«, mutmaßte er und sah ein leichtes Nicken. »Hast du dich deswegen hinter dem Baum versteckt?«
Es folgte ein zögerliches »Ja.«.
»Ehrlich gesagt habe ich auch keine richtige Lust, aber ich habe eine Idee.« Anstatt die Sterne zu beobachten, wollte er lieber Zeit mit Lucas verbringen. Seine scheue Art gefiel ihm. »Ich hole uns was zu trinken, und wir machen es uns im Gras gemütlich.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, holte er sein abgestelltes Glas und steuerte geradewegs auf die Bar zu. Offensichtlich hatte ihn niemand vermisst. Vicci und ihre Freundinnen waren immer noch mit dem Auspacken der Geschenke beschäftigt. Die anderen Gäste unterhielten sich angeregt, lachten oder hatten inzwischen die Tanzfläche erobert. An der Bar bestellte Ben zwei Hurricane und kehrte mit ihnen zurück zu Lucas. Dieser bedankte sich und führte ihn nicht zur Grasfläche, sondern auf die andere Seite der Terrasse, auf der sich hinter der Ecke verborgen ein großer Swimmingpool befand. Zu ihrem Glück hatte noch kein Partygast diesen Bereich entdeckt. Vor allem war es hier ruhiger, und sie konnten sich in normaler Lautstärke unterhalten.
Die im Schwimmbecken eingebauten Lichter ließen das Wasser hell erstrahlen, sodass weiteres Licht nicht nötig war. Außerdem erkannte man so viel besser das blaue Mosaik am Boden des Beckens, das wie eine große Muschel geformt war. Sie setzten sich einander gegenüber auf Sonnenliegen, wobei Lucas erst nach dem zweiten Bitten Platz nahm.
»Erklär mir mal, was du hier machst? Hat Vicci dich eingeladen?« Gespannt wartete Ben auf die Antwort und nahm erst einmal einen tiefen Schluck von seinem Cocktail.
»Nicht ganz«, sagte Lucas und spielte nervös mit dem schwarzen Strohhalm in seinem Glas. »Ich wohne hier.«
»Du wohnst hier? Cool! Dann sind wir ja Nachbarn.« Nun wurde es interessant. Er machte es sich auf der Liege bequem. Dabei konnte er seinen Blick kaum von Lucas lassen. Wie schon bei ihrer ersten Begegnung auf dem Friedhof musterte er ihn eingehend. Ben konnte es nicht mit Gewissheit sagen, aber sein Gegenüber schien jünger als er zu sein. Lucas strahlte auf seine ganz eigene Art eine naive Jugendlichkeit und Neugier aus, aber auch seine Schüchternheit übte eine gewisse Faszination aus.
Ben fand Lucas attraktiv. Er war nicht so aufgedonnert und von sich überzeugt wie die reichen Söhne und Töchter, die er kannte, und trug keine Angeberklamotten, wie er immer sagte. Ganz im Gegenteil. Die ausgefranste ältere Jeans, das nicht mehr allzu neue T-Shirt und die abgenutzten Turnschuhe unterstrichen nur noch seine natürliche Schönheit. Dazu kam der verlegene Blick aus den glänzenden hellgrünen Augen.
Plötzlich bemerkte Ben, dass Lucas nach Worten rang. Er wollte ihm etwas sagen. Einem Impuls folgend konnte er sich auch denken, was das war. »Du bist bei den Pattons angestellt.«
Verwundert starrte Lucas ihn an. »Woher …?«
»Woher ich das weiß?«
Es folgte ein zaghaftes Nicken.
»Ich sage es mal so: Du hast dich versteckt, damit dich niemand sieht, weil du nicht eingeladen bist. Und du wolltest nicht auf die Terrasse. Das kann nur eines bedeuten: Es sollte dich niemand sehen. Also wolltest du dich lieber weiterhin verstecken und deswegen sind wir auch hier gelandet. Habe ich recht?«
Lucas nickte zögerlich.
»Und als was arbeitest du hier? Denn wenn ich du wäre, würde ich den Job an den Nagel hängen und mich auf das Zeichnen konzentrieren. Du hast echt Talent dafür. Das sage ich nicht einfach so daher, sondern, weil es stimmt.«
Mit geröteten Wangen versteckte sich Lucas hinter dem Cocktailglas und zog an dem Röhrchen. Doch kaum hatte er den ersten Schluck getrunken, musste er husten und das Glas auf dem Boden abstellen. »Tschuldigung«, nuschelte er und hustete noch mehrere Male.
»Ich glaub’s nicht. Du bist keinen Alkohol gewohnt.« Ben lachte. »Ich hab den Barkeeper gebeten, einen extra Schuss Jamaica-Rum hinzuzufügen. Vielleicht hätte ich dich vorher lieber fragen sollen.«
Lucas seufzte. »Kein Problem. Das schmeckt gut. Nur weiß ich nicht, was es ist.«
»Ein Hurricane mit extra viel Rum.« Ben lachte wieder, verstummte aber, als er bemerkte, dass sich Lucas schämte. »Da habe ich wohl Mist gebaut. Entschuldigung. Versuch noch mal einen Schluck. Bei meiner Mischung schmeckt man den Maracujasaft viel besser heraus.«
Lucas ließ sich überreden und nahm einen zweiten Schluck, diesmal ohne zu husten. »Schmeckt gar nicht so schlecht.«
»Sag ich doch.« Ben lachte und sah wieder in diese wunderschönen glitzernden hellgrünen Augen. Bereits auf dem Friedhof hätte er sich in ihnen verlieren können. Sie bargen eine ihm unbekannte Unschuld, die ihn anzog. Doch er musste sich zusammenreißen. Dass Lucas immer noch nicht wusste, mit wem er sprach, reizte Ben am meisten. »Erzähl mal. Was arbeitest du denn, wenn du nicht gerade solche tollen Bilder zeichnest? Übrigens … danke für mein Porträt. Es ist heil und sicher bei mir angekommen. Ich habe sogar vor, es rahmen zu lassen.« Noch während er sprach, hätte Ben schwören können, dass Lucas rot wurde. Das gefiel ihm. »Also … raus mit der Sprache. Ich platze vor Neugier.«
Lucas ließ sich einen Moment Zeit. »Ich bin hier der Gärtner. Manchmal helfe ich auch im Golfklub aus.«
Diese Worte überraschten Ben keinesfalls. Beinahe hatte er so etwas erwartet, ohne zu wissen, wieso. »Ich sollte dich mal am Tag besuchen kommen und sehen, was du so treibst.«
»Das ist aber nicht wirklich interessant.«
Ben lächelte. »Woher willst du das denn wissen? Vielleicht finde ich es spannender, als den ganzen Tag in einem muffigen Büro zu ersticken.« Er nahm einen Schluck von seinem Hurricane. »Wie alt bist du eigentlich? Kommst du aus London? Wie bist du zum Zeichnen gekommen?« Am liebsten hätte er alles auf einmal erfahren. Zweifellos mochte er Lucas, seine Schüchternheit und besonders seine Augen.
»Ich bin achtzehn«, sagte Lucas leise und spielte nervös mit dem Strohhalm in dem Cocktailglas. »Ich komme nicht aus London, sondern bin hierhergezogen. Ich … ich musste umziehen. Tja, jetzt bin ich hier. Zeichnen tue ich, weil es mir Spaß macht.«
»Was für ein Glück für mich, sonst hätte ich dich nicht kennengelernt. Oder bist du da anderer Meinung?« Ben war sich nicht sicher, doch er glaubte, dass es Lucas unangenehm war, von sich zu erzählen. Daher wählte er eine andere Taktik, um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken.
»Kann … kann sein.« Lucas biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick.
»Weißt du was …«, lenkte Ben ein, »ich frage dich die ganze Zeit aus und du weißt gar nichts von mir. Meinen Namen kennst du ja. Ich bin vierundzwanzig, in London geboren, dein Nachbar und gerade froh, dass wir uns wiedersehen. Als du nicht auf dem Friedhof aufgetaucht bist, dachte ich, du wolltest nichts mehr mit mir zu tun haben.«
»Das stimmt nicht«, warf Lucas ein und schielte zu Ben herüber. Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein zaghaftes Lächeln ab.
»Da bin ich aber froh.« Ben zwinkerte. »Ich habe eine Idee. Wie wäre es, wenn wir uns diese Woche treffen und zusammen in die Stadt fahren. Ich kenne da eine kleine Bar, dort mixt …«
»Ben«, unterbrach ihn eine ihm bekannte Frauenstimme. »Ben! Was machst du hier? Ich habe dich überall gesucht.«
Mist, fluchte er innerlich und drehte sich in die Richtung, aus der soeben Vicci um die Ecke stürmte.
»Verdammt!« Sie baute sich in gespielt verärgerter Position, mit den Händen in den Hüften, vor ihm auf. »Ich wollte dich ein paar Leuten vorstellen und plötzlich warst du verschwunden. Beim nächsten Mal …«, mitten im Satz starrte sie zu Lucas hinüber, der erschrocken zusammenzuckte und sofort aufstand. »Was machst du hier? Ich dachte, du bist schon längst weg.«
»Das ist meine Schuld«, sagte Ben, bevor Lucas etwas sagen konnte, und lenkte damit Viccis volle Aufmerksamkeit auf sich. Für einen Moment hätte er meinen können, dass sie Lucas wie eine lästige Fliege betrachtete, doch dieser Ausdruck verwandelte sich schnell wieder in ihr typisches Grinsen zurück. Womöglich hatte sich Ben das auch nur eingebildet. Auf jeden Fall wollte er nicht, dass Lucas seinetwegen Ärger bekam. »Ich bin im Garten spazieren gegangen, und da sind wir uns zufällig über den Weg gelaufen. Wir haben ein wenig gequatscht und …«
»Entschuldigung«, unterbrach ihn Lucas. »Es ist meine Schuld. Ich bin sofort weg.« Aufgewühlt sah er Ben an, stellte das Glas auf dem Boden ab und lief ohne ein weiteres Wort in die Dunkelheit davon.
Wortlos stand Ben da – und er war selten sprachlos. Egal, was zwischen Vicci und ihm eben vorgefallen war, er wollte nicht, dass Lucas ging. Ihm war es völlig gleichgültig, ob Lucas Gärtner war oder ein Partygast. Er hätte sogar ein Müllarbeiter sein können und er hätte ihn immer noch faszinierend gefunden. »Halt! Warte doch.«
Zu spät. Lucas war verschwunden und er mit Vicci allein.
Sie schmiegte sich eng an ihn und legte einen Arm um seinen Hals. »Lucas ist ein komischer Typ. Lass ihn gehen«, raunte sie ihm ins Ohr. Sie fasste ihn am Kinn und drehte sein Gesicht dem ihren zu. »Ich kenne eine gute Methode, um dich abzulenken.« Ihre Lippen berührten seine. Für einen Moment ließ er den Kuss zu, aber im nächsten schob er sie behutsam, gleichfalls bestimmend, von sich.
»Jetzt nicht. Wen soll ich denn kennenlernen? Leider kann ich aber nicht mehr lange bleiben. Es ist etwas dazwischengekommen.«

© Jana Martens

.

.