Leseprobe: Brennende Herzen – Dark River


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Kapitel Eins

Der Mensch hat drei Wege, klug zu handeln. Erstens durch Nachdenken: Das ist der edelste. Zweitens durch Nachahmen: Das ist der leichteste. Drittens durch Erfahrung: Das ist der bitterste.

– Konfuzius –

Die Welt, wie man sie einst kannte, existierte nicht mehr. Ein fataler Sonnensturm bombardierte vor zweihundertfünfzig Jahren mit seinen geladenen Teilchen die Erde und riss das Magnetfeld beinah in Stücke. Durch die daraus erfolgte Beschleunigung des Erdkerns wurde der Blaue Planet ins Chaos gestürzt.
Verheerende Erdbeben und Tsunamis bislang unbekannten Ausmaßes verwüsteten weite Teile der Kontinente. Vulkanausbrüche verdunkelten den Himmel. Seither versuchte die farblose Sonne, ihren Platz im nuklearen Winter zurückzuerobern.
Kayden blickte prüfend in den Himmel und beobachtete, wie die kraftlose rote Scheibe einen weiteren Vorstoß wagte, sich durch die dichten grauen Wolkenbänder zu kämpfen. So sehr er sich wünschte, dass sie letztlich den Kampf gewinnen möge, so dankbar war er heute für die vorherrschende Dämmerung.
Angestrengt lauschte er in die Stille hinein. Jedes leiseste Geräusch könnte die zahlreichen Soldaten alarmieren, die in den letzten Tagen verstärkt durch die schlammigen Straßen New Londons patrouillierten. Er atmete flach und presste sich gegen die Hauswand, deren Mauerwerk ihm guten Schutz vor neugierigen Blicken bot.
Wie jeden Morgen passierten auch heute Hunderte Arbeiter den Kontrollposten Fünf auf dem Weg von den Wohnterrassen Roof Gardens hinunter ins Tal Dark Valley, wo sie ihrer Arbeit nachgingen. Pünktlich, wenn bei Sonnenuntergang die Glocken läuteten, kehrten die Menschen in ihre Behausungen zurück und nur jene, die ihr Leben in den Slums fristeten, blieben in der Talsenke zurück. Die Stadt erstreckte sich rund um den Berg Tajos Altos hinauf bis nahezu unterhalb des Gipfels in fast dreitausend Meter Höhe.
»Bist du bereit?«, flüsterte Samuel, der neben ihm an der Mauer kauerte.
Kayden starrte seinem Bruder und gleichzeitig besten Freund in die hellbraunen Augen und schluckte merklich. Sein beschleunigter Herzschlag pumpte Adrenalin durch den Körper und machte ihn wachsamer.
Knapp dreißig Meter von ihrer Position entfernt befand sich der Kontrollposten. Jeder Bewohner, der nach Roof Garden wollte, musste dort seinen Implantat-Chip scannen lassen. Widerrechtlicher Übertritt hatte Gefangennahme und Verhör zur Folge.
Kurz nachdem New London von einer Handvoll Überlebender aus dem überschwemmten Norden Europas in der Sierra Nevada Spaniens gegründet worden war, wurde diese Maßnahme ergriffen. Angeblich wollte man so die wenigen verfügbaren Ressourcen, die seit der großen Katastrophe zur Verfügung standen, gerecht verteilen. Die Knappheit der Vorräte bestand schon lange nicht mehr und nun diente der Chip der Kontrolle der Menschen, denn über ihn konnte das Militär jederzeit den Aufenthaltsort eines Bürgers feststellen. Außerdem speicherte er sämtliche Informationen des Trägers bis ins kleinste Detail. Angefangen beim Geschlecht über Blutgruppe, Augenfarbe, Haarfarbe, Name und Alter, bis hin zu Krankheitsanfälligkeiten und –risiken sowie die erfolgten Verabreichungen von Black Silence. Dem einzigen wirksamen Mittel gegen Morbus Septic, einer tödlich verlaufenden Krankheit, mit der die Bewohner New Londons infiziert waren und für die es bisher kein Heilmittel gab.
»Bist du bereit, Sam?«, gab Kayden die Frage zurück und blickte wieder zu den Soldaten.
Er hörte Samuel hinter sich seufzen.
»Du willst es also allen Ernstes tun?«
»Es bleibt uns doch nichts anderes übrig.«
Kayden war gemeinsam mit Samuel in dessen Familie aufgewachsen. Schon immer waren sie ein Herz und eine Seele. Egal, was einer von ihnen sagte oder tat, nie zweifelten sie an den Motiven und Handlungen des anderen. Heute jedoch waren die Nerven seines Bruders zum Zerreißen gespannt. Was Kayden beabsichtigte, konnte im schlimmsten Fall mit ihrem Tod enden.
»Dir ist bewusst, dass Vater davon erfahren wird … so oder so«, flüsterte Samuel.
»Schon klar. Das wussten wir vorher auch schon. Du kannst immer noch aussteigen, wenn du willst. Ich mache dir deswegen keine Vorwürfe.«
»Keine Chance. Ich gehe mit dir«, erwiderte Samuel. Ein wissendes Schmunzeln erhellte sein Gesicht. »Meinst du, ich überlasse dir den ganzen Spaß? Falsch gedacht. Ich will ebenfalls die Wahrheit herausfinden. Vater kann mir viel erzählen. Ich glaube ihm nicht.«
Kayden lächelte. »Danke. Das bedeutet mir sehr viel.« Er klopfte ihm auf die Schulter. »Lass uns nicht länger warten.«
»Hast du die Chips?«
»Hier.« Kayden fischte aus seiner Manteltasche zwei durchsichtige Synthetikchips in der Größe eines Stecknadelkopfes und präsentierte sie in der hohlen Handfläche. Die Entfernung des Chips war unter Todesstrafe verboten. Die Bewohner hielten sich an das Verbot, alle, bis auf die Rebellen. Ihre erforderliche Impfdosis erbeuteten sie bei Überfällen der wöchentlichen Lieferungen an die Gesundheitszentren, wobei sie so geschickt vorgingen, dass sogar das Militär machtlos dagegen war.
»Hoffentlich hat niemand bemerkt, dass du die Chips aus Lathams Labor gestohlen hast.« Neugierig musterte Samuel sie auf Kaydens Handfläche.
»Sei ehrlich: Spielt das noch eine Rolle? Wenn wir das durchziehen, gibt es kein Zurück mehr. Jenson würde uns für den Verrat auf der Stelle erschießen lassen.«
»Das Militär auch, wenn sie feststellen, dass es nicht unsere sind.« Samuels Miene verfinsterte sich. »Ich weiß, ich habe deinem verrückten Plan zugestimmt, weil ich herausfinden will, ob die Gerüchte stimmen. Ich kann nicht glauben, dass sich Jenson mit der Kirche verbündet hat. Er und Sanaih können sich nicht ausstehen. Das haben sie beide bei ihrem letzten Treffen deutlich gezeigt. Ich bin mir aber sicher, Jenson verschweigt uns etwas. Nur was?«
»Keine Ahnung. Möglich wäre es, dass sie doch etwas Gemeinsames planen. Erinnere dich an das Sprichwort: Der Feind meines Feindes ist mein Freund«, sagte Kayden. Ihm fuhr die wachsende Unruhe durch Mark und Bein und jagte ihm einen kalten Schauder über den Rücken. Die Angst rauschte durch seine Adern, und doch war sie ihm willkommen. Das Adrenalin nahm ihm die Furcht, schärfte seine Sinne und verlieh ihm Entschlossenheit. Obwohl er sich eingestand, dass der Einwand seines besten Freundes berechtigt war. Samuel hatte fast immer recht. Er war sein Gewissen, sein Rückhalt und mit ihm an seiner Seite fühlte sich Kayden mutig genug, diesen verrückten Plan in die Tat umzusetzen.
Sie gehörten mit ihren zwanzig Jahren zu den Jüngsten der Rebellen. Schon von Geburt an waren sie mit den Untergrundtruppen von Versteck zu Versteck gezogen. Im Namen der Freiheit und unter ihrem Anführer und Vater Jenson waren sie erwachsen geworden. Sie kämpften mit Herz und Verstand, hatten nie einen Befehl verweigert oder sich vor einem Kampf gedrückt. Dieses Mal war es jedoch anders. Zum ersten Mal hintergingen sie ihn. Jenson saß im Hauptquartier und unternahm nichts, um den Gerüchten auf den Grund zu gehen oder sie zu zerstreuen. Ein Wesenszug, den sie an ihm nicht kannten und der sie dazu veranlasste, selbst zu handeln.
Angeblich plante das Militär, unter Führung des Regierungschefs George Rushton, die Anhängerschaft der neuen Religion für immer auszumerzen. Für die Gläubigen waren Morbus Septic sowie Black Silence und die daraus resultierende Genforschung ein Frevel gegen Gott. Sie sahen das Chaos, das der Sonnensturm ausgelöst hatte, als Strafe an. Die Naturkatastrophen waren die Konsequenzen für die Ausbeutung fossiler Brennstoffe, Atombomben und unzählige Kriege, die viele Millionen unschuldige Opfer gefordert hatten. Das waren ihre Argumente, um die Bevölkerung gegen die momentane Regierung von George Rushton aufzuhetzen. Daher ging das Gerücht um, der Anführer der Kirche hätte sich den Rebellen angeschlossen und plante gemeinsam mit ihnen einen Großangriff auf den Regierungssitz in Gouvernement Seat.
Dieses Gerede war zu absurd, um auch nur annähernd der Wahrheit zu entsprechen. Sanaih und seine Kirche verabscheuten die Methoden der Rebellen. Das wussten Kayden und Samuel –, aber vor allem wusste es Jenson.
Kayden verdankte ihm sein Leben. Jenson hatte ihn als Säugling von der Straße aufgelesen und konnte ihn retten, bevor er an dem Fortschreiten von Morbus Septic gestorben wäre. Dass er überlebt hatte, grenzte an ein Wunder, denn er hatte bereits hohes Fieber und brennender rötlicher Hautausschlag bedeckte seinen Körper. Nur wenige Stunden, bevor der Zerfall der inneren Organe begonnen hätte, und somit sein Schicksal besiegelt gewesen wäre, war es Jenson mithilfe des Arztes der Rebellen gelungen, den Virus aufzuhalten. Seither hatte Jenson dafür gesorgt, dass Kayden immer regelmäßig alle drei Tage seine Dosis bekam.
Von Kindesbeinen an war er für ihn wie ein richtiger Vater, hatte ihn Lesen und Schreiben gelehrt und ihm einen Platz in seiner Familie gegeben. Er bekam täglich eine anständige Mahlzeit, sauberes Trinkwasser und halbwegs gut erhaltene Kleidung.
Jensons Güte war keineswegs uneigennützig, dessen war sich Kayden bewusst. Bereits mit acht konnte er auf den ersten Blick jeden Waffentyp identifizieren. Mit neun schoss er so sicher, dass er seine Ziele so gut wie nie verfehlte. Zwei Jahre später gehörten Samuel und er dem tief verwurzelten Schmugglerring an, der wöchentlich – und unter ständiger Gefahr, entdeckt zu werden – Impfstoff, Nahrungsmittel, Waffen, Medikamente und alles sonst Nützliche von Roof Garden zum Rebellenhauptsitz transportierte. So hatten sich die Rebellen einen Namen unter der ärmeren Bevölkerung gemacht und konnten sich frei im Untergrund bewegen. Im Gegenzug nahmen sie Freiwillige auf und bildeten sie aus. Die Hauptfeinde waren und blieben die Regierung und das Militär.
Kayden versuchte, den Gedanken an Jenson auszublenden, da er im Begriff war, seinen Gönner zu hintergehen.
»O Mann. Vater wird uns häuten«, holte Samuels Flüstern ihn in die Gegenwart zurück. »Vorher wird er uns auspeitschen. Uns die Zungen herausschneiden, und wenn er gnädig ist, dann …«
»Verdammt, Sam«, fauchte Kayden. Er wusste, welches Schicksal ihnen bevorstand, wenn sie in Jensons Fänge gerieten. »Du hast eben gesagt, dass du ihm kein Wort glaubst. Dann höre gefälligst auf, unsere Mission schon als gescheitert zu betrachten. Wir haben nicht einmal angefangen. Wir implantieren uns jetzt die gestohlenen Chips und tun so, als wären wir Hilfsarbeiter auf dem Weg zur Arbeit. Verzweifeln kannst du, falls wir entdeckt werden. Außerdem solltest gerade du mich besser kennen. So einfach gebe ich nicht auf. Wir sind Brüder und der eine zählt auf den anderen, schon vergessen? Aber wenn du willst, kannst du noch aussteigen und ich mache ohne dich weiter, was die Sache natürlich schwieriger macht. Ich wäre auch nicht sauer auf dich.«
Kayden konnte seinen Freund verstehen, denn er wusste, worauf dessen Angst begründet war. Am liebsten hätten sie den einfachen Weg über die alten Abwasserkanäle genutzt. Sie waren so alt wie die Stadt selbst und reichten weit in den Berg hinein, wo sie sich mit einem labyrinthartigen Höhlensystem verbanden, das von jedem nur Dark Rivers genannt wurde. Die Höhlengänge schlängelten sich wie pechschwarze Flüsse durch das Gestein und boten den perfekten Schutz vor dem Militär. Sie waren das Territorium der Rebellen, doch gerade das war ihr Problem. Jenson hatte erst kürzlich die Patrouillen verstärkt. Die Ausgänge wurden vom Militär bewacht. Damit blieb ihnen nur der Weg über die Oberfläche offen.
Samuel seufzte. »Ich halte, was ich verspreche. Ich lasse dich nicht im Stich.«
Für Kayden war das Antwort genug. »Vergiss nicht, wenn es stimmt, was wir zu wissen glauben, handeln wir richtig. Nur Rushton kann hinter dem Gerücht stecken und das werden wir beweisen. Sanaih und die Rebellen waren ihm schon immer ein Dorn im Auge. Durch uns verliert er immer mehr an Glaubwürdigkeit in der Stadt. Also musste er eine Lüge erfinden, damit sich alle hinter ihn stellen und gegen uns arbeiten.«
»Vater hat sich noch nie so teilnahmslos verhalten. Ich kann ihn ja verstehen, wenn er sagt, es wäre eine Falle. Aber was passiert, wenn die Leute plötzlich anfangen, sich auf Rushtons Seite zu stellen, weil sie ihm glauben? Klar, sie haben Angst. Mir ist es allerdings schleierhaft, warum sie ihr erbärmliches Leben unter Rushtons gnadenloser Regierung weiterführen wollen. Glauben sie den Gerüchten, werden sie Jenson nicht mehr unterstützen, aber er ist auf ihre Unterstützung angewiesen.« Er machte eine kurze Pause, dann lächelte er. »Egal, ob Falle oder nicht, ich muss auf dich aufpassen. Zufällig weiß ich, dass du Probleme magisch anziehst.« Samuel lachte leise und aus seinem Gesicht verschwanden zusehends die letzten Zweifel.
Kayden nickte zufrieden. »Auf dich ist eben Verlass.«
Sie reichten sich die Hände und es war beschlossene Sache. Keiner würde kneifen.
Samuel schob den Ärmel seines zerschlissenen Pullovers nach oben. Kayden zog in der Zwischenzeit ein Klappmesser aus der Hosentasche. Die Synthetikchips reichte er an seinen Freund weiter. Für das, was er vorhatte, benötigte er beide Hände. Er ließ das Messer aufschnappen und machte sich augenblicklich ans Werk.
Entschieden fuhr er mit der scharfen Klinge über Samuels Haut und hinterließ auf der Innenseite des Unterarms einen circa einen Zentimeter langen Schnitt. Anschließend nahm er einen der Chips und schob ihn langsam unter die Haut. Danach griff er in seine Hosentasche und brachte etwas zum Vorschein, das seinen Freund in Staunen versetzte.
»Woher hast du die künstliche Haut?«
»Du würdest dich wundern, was Latham alles in seinem Labor hortet.« Kayden grinste. »Er bewahrt dort nicht nur seine krankhaften Laborversuche und die Medikamente auf. Es ist wohl besser, wenn ich dir nichts von den abartigen Experimenten erzähle.«
»Ganz ehrlich? Ich will es nicht wissen.« Angeekelt rümpfte Samuel die Nase. »Beeil dich lieber, der Wachwechsel findet gleich statt. Dann sind die Soldaten abgelenkt und achten nicht so genau darauf, wen sie durchlassen.«
Schweigend löste Kayden die künstliche Haut von einem feinmaschigen Gitternetz, auf dem sie festgeklebt war, und legte sie auf die offene Wunde. Sofort verschwand der Schnitt darunter. Zurück blieben nur ein paar Blutstropfen. Samuel wischte sie weg und beäugte seinen Arm.
»Klasse. So bestehen wir den Scan. Wenn sie nicht gerade verlangen, dass ich mich ausziehen soll.« Er drückte die zweite Haut fest und schob den Ärmel seines Pullovers nach unten. »Jetzt bist du dran.«
Samuel wiederholte die Prozedur bei Kayden.
Ein letzter prüfender Blick und dann musste sich Kayden von seinem geliebten Messer trennen. Mit der Waffe kam er am Scanner nicht vorbei. Er wollte es aber nicht einfach auf die schlammige Straße werfen. Aus diesem Grund entschied er sich, es in einem kleinen Spalt in einer Hauswand zu verstecken. Vielleicht könnte er es irgendwann holen, falls es vorher nicht von jemand anderem gefunden wurde.
Kayden war bis in die kleinste Faser angespannt. Er war bereit, auf alles zu reagieren, falls ihr Plan misslingen sollte. Sein Herz pochte so schnell, als würde er einen Marathon bestreiten, während sich Mund und Kehle staubtrocken anfühlten. Die Angst nagte an seinen Nerven. In all den Jahren hatte er schon viele brenzlige Situation überstanden, dabei unzählige Male dem Tod ins Auge geblickt, aber stets hatte er den Schutz der Truppe gespürt. Heute waren Samuel und er allein. Ein mulmiges Bauchgefühl hinterließ bei ihm den Eindruck, als hätte er einen Haufen Kieselsteine verschluckt, die ihm schwer im Magen lagen. Dabei spürte er kaum das Brennen im linken Unterarm, wo der Chip unter der künstlichen Haut versteckt war.
»Ganz ruhig. Es wird schon schiefgehen.« Kayden versuchte, sich und Samuel Mut zu machen, aber selbst in seinen Ohren klangen die Worte in diesem Moment hohl und nichtssagend. Eine Sekunde der Unaufmerksamkeit konnte ihren Tod bedeuten.
»Das bin ich«, log Samuel ganz offensichtlich und lächelte trotzdem. Das aufgesetzte Lächeln, das Entschlossenheit und Zuversicht vermitteln sollte, erreichte jedoch nur das Gegenteil. »Du musst aufhören, dich zu verkrampfen.«
»Du aber auch.« Kayden hatte die Hände instinktiv zu Fäusten geballt, die weißen Fingerknöchel stachen hervor.
Schweigend reihten sie sich in die Schlange vor dem Kontrollposten ein. Vor ihnen warteten bereits zwei Dutzend Männer und noch einmal so viele Frauen. Sie starrten unentwegt auf den Boden und bewegten sich nur, wenn einer der Soldaten nach dem Nächsten rief. Während der Zeit des Wartens wurde Kayden erst wirklich bewusst, auf welches ungewisse Abenteuer sie sich einließen.
Ihr Handeln basierte allein auf dem Wunsch, dass die Rebellen durch die Bevölkerung weiterhin geschützt wurden, sonst würde es nicht lange dauern, bis das Militär alle Verstecke aufgerieben und jeden Einzelnen umgebracht hätte. Es war Jensons Gleichgültigkeit, die sie erst auf diesen irrsinnigen Plan gebracht hatte. Von einigen anderen Rebellen wusste er, dass auch sie nicht gewillt waren, einfach stillzuhalten und zuzusehen, doch keiner von ihnen traute sich, Jenson die Stirn zu bieten.
Für den Regierungschef Rushton war jedes Mittel recht, um an sein Ziel zu gelangen: die Rebellen ein für alle Mal auszumerzen. In den vergangenen Jahren war die Anzahl der Aufwiegler erheblich gesunken. Jeder, der vom Militär gefangen genommen und dem Verrat gegenüber der Regierung beschuldigt wurde, kam lebenslänglich ins Gefängnis oder wurde hingerichtet. Hinter vorgehaltener Hand munkelten jedoch einige Rebellen, dass Rushton sie für abscheuliche Experimente den Wissenschaftlern zur Verfügung stellte. Allein deswegen musste er früher oder später ausgeschaltet werden.
»Der Nächste«, rief ein Soldat durch das verdunkelte Visier des Schutzhelms.
Kayden sah auf. Nur noch ein Mann trennte Samuel und ihn von Roof Garden. Er biss sich auf die Innenseite der Wange und betete stumm, dass ihre Tarnung nicht aufflog. Wenn er auch nicht an eine höhere Macht glaubte, so vertraute er auf das Schicksal und einer ordentlichen Portion Glück.
Sein Blick schweifte zu der Laserschranke, die sie passieren mussten. Fünf schwer bewaffnete Soldaten standen dahinter auf der Geröllstraße und überwachten die nähere Umgebung. Zwei weitere führten die Kontrollen durch. Einer scannte, der andere ließ die Arbeiter durchgehen, sobald sie überprüft und sauber waren.
»Der Nächste«, rief der Soldat mit dem Scanner. Unter dem Helm klang seine Stimme seltsam ausdruckslos und mechanisch.
Nun war Samuel an der Reihe. Kayden spannte die Muskeln an. Die Wache in dunkelblauer Uniform unterzog seinen Bruder einer gründlichen Musterung. Mithilfe eines tragbaren handtellergroßen Scanners mit Monitor, der an seinem Arm befestigt war, durchleuchtete er Samuel. Der Scanner durchdrang mühelos die Kleidung. Als er über die Stelle mit dem Chip glitt, hielt Kayden den Atem an. Der Soldat las die gespeicherten Daten auf dem Monitor.
Nun würde sich zeigen, ob Kayden alles richtig gemacht hatte. Vor drei Tagen war er in Lathams Labor eingebrochen und hatte aus dessen Vorrat zwei Chips gestohlen. Anschließend hatte er am Computer die Implantate mit falschen Daten programmiert. Die Ironie des Ganzen war, dass es einst Jenson gewesen war, der es ihm beigebracht hatte. Es hatte ihn einige Zeit und Mühe gekostet, um sich mit einer sicheren Verbindung auf den Hauptserver des Gesundheitszentrums einzuhacken.
»John Dewey«, sagte der Soldat und verglich das angezeigte Bild des Chips mit dem Mann vor ihm. »Sie sind Hilfsarbeiter im Gewächshaus drei, Sektor zwölf. Stimmt das?«
»Ja, Sir.«
Etliche Sekunden verstrichen und kamen Kayden wie eine Ewigkeit vor. Erneut studierte der Wachmann die Daten, bis er das ersehnte Handzeichen gab. Sein Kollege an der Laserschranke ließ ihn ungehindert ziehen.
»Der Nächste.«
Kayden trat vor. Er musste sich konzentrieren, nicht breit zu grinsen. Sein Freund hatte es tatsächlich geschafft. Die schlaflosen Nächte, die er sich um die Ohren gehauen hatte, immer mit der Gefahr im Nacken, jederzeit erwischt zu werden, hatten sich ausgezahlt.
Der Soldat musterte ihn von Kopf bis Fuß. Daraufhin tastete er ihn mit dem Scanner ab. Kayden presste unbewusst die Lippen aufeinander. Seine Nervosität war mit einem Schlag zurück.
»Dein Arm«, forderte der Wachsoldat ihn auf.
Mit einem Kloß im Hals hob er den Arm an.
Der Scanner piepte und der Mann sah auf den Monitor. Kayden schielte hinüber und glaubte, sein Herz würde stehen bleiben. Nicht sein Bild, sondern Jensons Konterfei starrte ihn an.

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Kapitel Zwei

Der Krieg ist der Vater aller Dinge und der König aller. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.

– Heraklit –

Es war ein Albtraum! Kayden war sich sicher, dass er auf seiner Pritsche lag und träumte. Jeden Augenblick würde er schweißgebadet die Augen öffnen und sich in der Dunkelheit seiner Schlafnische einen Idioten schimpfen. Aber er wachte nicht auf.
Ein schelmisches Lächeln umspielte die strengen Gesichtszüge Jensons auf dem Monitor. Dunkelgraue Augen funkelten ihn mit der Härte des Rebellenanführers an. Jenson präsentiere das stattliche Bild eines gnadenlosen Kriegers, der mit der Waffe in der Hand schlief, grundsätzlich zuerst handelte und anschließend Fragen stellte.
Wie war das möglich? Warum wurde nicht das von Kayden einprogrammierte Bild angezeigt? Niemand, außer Samuel, hatte von dem Diebstahl der Chips gewusst. Er vertraute seinem besten Freund blind. Es war unmöglich, dass er ihn hintergangen hatte. Aber wenn Samuel es nicht war, wer dann?
Die Antworten mussten warten. Panik machte sich in ihm breit. Kayden sah sich bereits in Handschellen abgeführt und vom Militär verhört, vorausgesetzt sie würden ihn nicht auf der Stelle erschießen. Sein Puls raste, ein Schweißfilm bildete sich auf der Stirn und in den Wirren seiner wachsenden Angst loderte Zorn auf. Wut und Enttäuschung drängten sich an die Oberfläche. Er ballte die Hände zu Fäusten. Niemals würde er sich kampflos ergeben. Für einen Moment bereute er es, sein Klappmesser zurückgelassen zu haben, wobei er damit gegen die geladenen Waffen der Soldaten wenig hätte ausrichten können.
Als er sich entschloss, einen Überraschungsangriff zu starten, heulte plötzlich hinter ihm die Sirene eines Militärgleiters auf. Das zehn Meter lange Fluggerät – das in Form und Funktionalität einem Düsenjet aus dem 21. Jahrhundert nachempfunden war, allerdings leichter und wendiger als ein Hubschrauber durch die Luft glitt – trudelte über ihre Köpfe hinweg und sank rasend schnell zu Boden. Ungebremst donnerte der Gleiter auf die Erde und schlitterte in das nächste Gebäude hinein.
Instinktiv ging Kayden in die Hocke, wandte sein Gesicht ab und hielt die Arme schützend über den Kopf. Fast zeitgleich hörte er eine ohrenbetäubende Explosion, die alles und jeden im näheren Umkreis erschütterte. Trümmer flogen umher und verfehlten ihn nur knapp. Nachdem die heiße Schockwelle über ihn hinweggebraust war, schielte er vorsichtig hervor und beobachtete eine grelle Flammenzunge, die gleich mehrere Menschen auf der Straße in den Tod riss.
Der Soldat, der sich mit Kaydens Daten beschäftigt hatte, lag merkwürdig verrenkt auf dem Boden und bewegte sich nicht. Sein Kollege, der offensichtlich mehr Glück gehabt hatte, weil er hinter einem Mann Schutz gesucht hatte, der blutüberströmt und reglos dalag, sprintete los. Von seinen fünf Kollegen fehlte jede Spur. Beim Anblick des Feuers und der Zerstörung bezweifelte Kayden, dass ein Mensch im näheren Umkreis den Absturz und die Detonation überlebt hatte. Er nutzte die Gelegenheit, die sich ihm bot und rannte zu Samuel, der sich gegenüber in einer Häusernische versteckte.
»Verdammte Scheiße!« Kayden keuchte und hustete. Der heiße Luftzug, der in seine Lungen gedrungen war, machte jeden Atemzug zu einer schmerzhaften Angelegenheit. Die Bronchien brannten und seine Kehle fühlte sich an, als hätte er das Feuer höchstpersönlich verschluckt.
»Wir müssen verschwinden«, rief Samuel ihm über die panischen Schreie der Überlebenden, die in alle Richtungen flohen, hinweg zu.
»Ja … lass uns … verschwinden«, pflichtete Kayden ihm bei und versuchte, die Schmerzen beim Atmen zu ignorieren. Zumindest so lange, bis sie der Gefahrenzone entkommen waren.
In dem Chaos achtete niemand auf sie. Sie blickten mehrmals über ihre Schultern zurück, wurden jedoch nicht verfolgt. Nachdem sie knapp fünfzig Meter hinter sich gebracht hatten, durchbrach ein ohrenbetäubender Knall die Luft. In geduckter Haltung suchten sie hinter der nächsten Häuserecke Deckung. Ein schrilles Pfeifen sauste über ihre Köpfe hinweg, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag. Der Boden vibrierte.
»Was war das?« Samuel starrte Kayden an.
»Vielleicht ein zweiter abgestürzter Gleiter?«
»Du meinst wohl eher abgeschossen«, korrigierte Samuel.
Kayden zuckte mit den Schultern. Neugierig lugte er um die Ecke. Dort, wo eben noch der Trümmerhaufen des Kontrollpostens gewesen war, klaffte jetzt ein Krater und eine Staubwolke senkte sich langsam herab. Überall lagen blutige Überreste, die einmal Menschen gewesen waren. Dann sichtete er die zerstörten Reste eines zweiten Militärgleiters. Entweder hatte er, wie bereits der vorherige, eine Fehlfunktion gehabt und der Pilot hatte die Kontrolle verloren oder aber Samuel hatte recht und beide Gleiter waren abgeschossen worden. Wobei er auf Letzteres tippte.
»Wer war das?« Samuels Stimme klang seltsam tonlos.
»Ich hoffe, nicht Jenson.« Kayden schüttelte angesichts der vielen Leichen den Kopf. »Ich glaube eher, das hier ist das Werk von Rushton.«
»Du meinst, er hat seine eigenen Leute abschießen lassen?« Samuel sah ihn skeptisch an.
»Klar. Dem Mistkerl traue ich alles zu. Überleg doch mal: Es sieht aus, als hätte Jenson den Befehl zum Abschuss gegeben. Das passt genau zu dem Gerede, das Rushton verbreiten lässt. Die Rebellen und die Kirche haben sich zusammengeschlossen und ihre erste Handlung war es, die Patrouillengleiter abzuschießen, um dann einen Großangriff zu starten.«
»Verdammt, Kay! Wenn du recht hast, sitzen wir hier in der Falle.«
Kayden hustete und nickte. Der Staub in der Luft machte für ihn das Atmen nicht unbedingt leichter. Schließlich gab er ein Zeichen, und gemeinsam eilten sie davon.
»Wir müssen uns verstecken. Und irgendwie müssen wir versuchen, zu Sanaih zu gelangen. Bei ihm sind wir hoffentlich vorerst sicher. Zurück zu Jenson können wir momentan nicht.«
»Ich hoffe, du weißt, was du tust.« Samuel hielt nach einem Versteck Ausschau.
Ohne weitere Worte folgten sie der leer gefegten Hauptstraße durch Roof Garden nach oben. Die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Merkwürdigerweise kam ihnen auch kein Soldat entgegen, was sie dazu veranlasste, in die nächste dunkle Gasse abzubiegen und abzuwarten. Gerade rechtzeitig, weil die ersten Sirenen in der Stadt aufheulten.
Das Militär rückte vor. Das bedeutete, dass Samuel mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. Die Gleiter waren vom Himmel geholt worden. Wer steckte tatsächlich dahinter? Jenson oder Rushton?
Kayden vermutete stark George Rushton. Es war nur logisch, dass dieser korrupte und wahnsinnige Hurensohn den ersten Schritt tat und es so aussehen ließ, als wären die Rebellen die Schuldigen. Das wiederum würde Jenson nicht auf sich beruhen lassen und wäre zu einer verfrühten Gegenreaktion gezwungen. Allein der Gedanke, wie diese aussehen würde, bescherte Kayden eine Gänsehaut. Blutige Straßenkämpfe bis zum Tod waren nur ein Szenario von vielen.
Während er darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, dass beide Parteien versuchen würden, sich gegeneinander auszuspielen, wobei Jenson höchstwahrscheinlich gezwungen wäre, die wahre Truppenstärke der Rebellen preiszugeben. Das war ein Punkt, den er bisher immer verhindert hatte. Vor allem, nachdem sich ihnen immer mehr Bewohner von Dark Valley anschlossen und im Hintergrund den Rebellen jedwede Unterstützung zukommen ließen.
Plötzlich fiel es Kayden wie Schuppen von den Augen. Inmitten des perfiden Katz-und-Maus-Spiels hatten Samuel und er genau das Falsche getan. Es lag klar auf der Hand, wer den Chip manipuliert hatte. Jenson hatte geahnt, was sie vorhatten und musste irgendwie heimlich den Chip umgeschrieben haben. Was er damit bezweckte, wurde ihm ebenfalls bewusst. Jenson tat nie etwas ohne Grund. Er wusste, mit den falschen Daten würden sie automatisch zwischen die Fronten geraten und nun war es ihr Problem, sich allein aus dieser verzwickten Lage zu befreien. Das war Jensons Strafe für ihren Ungehorsam. Mit Hilfe aus den Reihen der Rebellen konnten sie also nicht rechnen.
Just rollten die ersten braungrünen gepanzerten Militärfahrzeuge von der Hauptstraße in Richtung Dark Valley. Kayden und Samuel zogen sich tiefer in den Schatten zurück und pressten sich gegen eine Hauswand. Aus ihrem Versteck heraus beobachteten sie eine lange Reihe bewaffneter Fahrzeuge mit Hyperantrieb. Der Hyperantrieb war der robusteste und zugleich leistungsfähigste Antrieb, den es gab. Sein größter Vorteil bestand darin, dass jedes Fahrzeug damit nicht nur über den Boden gleiten, sondern sogar in die Luft aufsteigen konnte, wann immer es nötig war. Auf freier Strecke erreichten manche Geschwindigkeiten von mehr als achthundert Kilometer pro Stunde. Hinter den Fahrzeugen marschierten drei Einheiten Soldaten mit Maschinengewehren.
Kayden versuchte, seinen beschleunigten Herzschlag zu beruhigen. Dabei kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Sie waren in Rushtons Falle getappt. Allerdings vertraute Jenson auf ihre Fähigkeiten, mit dieser brenzligen Situation selbst umzugehen. Bei einer Festnahme blieb ihnen nur eine Möglichkeit: sich selbst zu befreien. Das bestärkte ihn in dem Glauben, dass er damit rechnete, sie lebend wiederzusehen. Nur leicht würden die Umstände es ihnen nicht machen. Ebenso die Strafe, die sie bei ihrer Rückkehr höchstwahrscheinlich erwartete. Jenson folterte nie ohne Grund, doch ihr Ungehorsam war ihm gleich mehrere Gründe wert. Das hatten sie wohl verdient.
Auf einmal schlich sich ein weiterer Gedanke an, der ihm fast das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sein Ziehvater und Anführer stand in Skrupellosigkeit und Brutalität George Rushton in nichts nach. Das Einzige, was beide voneinander unterschied, waren ihre Ziele. Rushton wollte über New London wie ein Diktator herrschen, während Jenson mit allen Mitteln versuchte, die Stadt aus der Knechtschaft des Militärs zu befreien, um sich auf das drängendste Problem zu konzentrieren: ein Heilmittel gegen Morbus Septic zu finden. Dabei gingen beide über Leichen und bedienten sich nun einer Sache: der Kirche und ihren Hetzreden. Somit waren die Gerüchte nicht so abwegig, wie zuerst gedacht.
Warum hatte er nicht reiflicher überlegt, anstatt einfach vorzupreschen?
Ein verräterisches Piepen und Pfeifen schreckte ihn auf. Es kündigte die Ankunft eines hoch technisierten Suchers an. Ein Seitenblick zu Sam verriet ihm, dass er richtig lag, denn ihm stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Die Suchdrohnen waren in New London das gefürchtetste Werkzeug des Militärs. Ausgestattet mit leistungsstarken und äußerst sensiblen Sensoren, mit Schallwellen und Infrarotkameras, die binnen Millisekunden in jedes sichtbare Spektrum wechselten, tasteten sie ihre unmittelbare Umgebung in einem Umkreis von fünfzig Metern kategorisch ab. Sobald eine potenzielle Gefahrenquelle ausfindig gemacht wurde, feuerten sie großkalibrige Geschosse ab. Erst vor Kurzem war Kayden Augenzeuge der Durchschlagskraft einer Suchdrohne geworden. Zwei Schüsse hatten ausgereicht, um eine Gruppe von zwei Dutzend Aufrührern bei der Verteilung von Essensrationen in Dark Valley auszulöschen.
Mit angehaltenem Atem lauschte er dem stetigen Pfeifen der Sensoren. Wie zu einer Salzsäule erstarrt, schloss Kayden die Augen und hoffte, dass die Drohne einfach ihren Weg fortsetzte. Aus einer Minute wurde eine halbe Ewigkeit, bis er zu blinzeln wagte und sah, dass sich keine dieser Tötungsmaschinen genähert hatte.
Sie waren in Sicherheit. Vorerst.
»Was ist überhaupt los?«, flüsterte Samuel. Langsam rutschte er an der Wand nach unten und hockte sich auf den kalten Asphalt.
»Das war verdammt knapp.« Kayden seufzte und setzte sich neben ihn. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Inzwischen konnte er auch wieder besser atmen. »Wenn ich raten müsste, dann ist das Militär auf dem Weg, die Rebellenstützpunkte ausfindig zu machen und zu zerstören. Einen Grund haben sie ja jetzt.«
»Aber wie? Sie kennen keinen der Eingänge.«
»Wer weiß … Vielleicht hat Sanaih etwas ausgeplaudert, um sein Leben zu retten und macht mit Rushton gemeinsame Sache. Oder das Militär hat eine neue Aufspürtechnik entwickelt. So oder so, wir müssen zurück.«
Samuel schüttelte den Kopf. »Ich kann Sanaih zwar nicht leiden, aber er und ein Verräter? Das glaube ich nicht.«
»Hm. Ich kann nur raten, und das bringt uns nicht weiter. Lass uns ein Versteck suchen und abwarten, bis sich die Lage beruhigt hat. Und dann versuchen wir, zurückzugehen.«
»Mein Gefühl sagt mir, wir haben wohl keine andere Wahl«, pflichtete Samuel ihm zähneknirschend bei. »Obwohl wir versuchen könnten, bei Craven in die Höhlen einzusteigen und von dort zurück ins Hauptquartier schleichen.«
»Zu riskant.« Kayden schluckte. »Schon vergessen? Jenson hat erst letzte Woche gesagt, Craven könnte ein Spion sein. Bis jetzt wurde er noch nicht wieder als sauber eingestuft.«
»Mist. Der nächste sichere Eingang ist dank der Gleiter verschüttet.«
Kayden nickte.
»Okay. Dann bleibt uns nur noch Sanaih.«
Es behagte Kayden nicht, sich an Sanaih zu wenden, um bei ihm durch einen gesicherten Einstieg in die Abwasserkanäle zu gelangen, doch dort mussten sie hin, um ins unterirdische Höhlensystem hinabzusteigen. Die bekannten Eingänge waren vom Militär zu stark bewacht. So schnell hatte sich ihr ursprünglicher Plan ins Gegenteil verwandelt.
Schließlich war es beschlossene Sache. Kayden und Samuel entfernten sich die manipulierten Chips und zertraten sie mit den Absätzen ihrer Stiefel. Anschließend schlichen sie durch die Straßen. Der Lärm von Straßenkämpfen in Dark Valley hallte zu ihnen herauf. Ob Rebellen daran beteiligt waren, wussten sie nicht, aber sie nahmen es an. Solange sie sich in Roof Garden aufhielten, waren sie vor dem Militär sicher. Allerdings waren sie unbewaffnet, und Kayden hatte sich noch nie verletzlicher gefühlt.
Je höher sie stiegen und je länger sie der betonierten Hauptstraße folgten, desto mehr Menschen drängten sich ins Freie. Es herrschte geschäftiger Trubel. Vor allem auf dem großen Marktplatz. Lastwagen mit Hyperantrieb glitten an ihnen vorbei, beladen mit Obst und Gemüse aus den Gewächshäusern von Dark Valley, die mit künstlichem Sonnenlicht betrieben wurden. Einige andere transportierten Schrott in die ebenso reichlich vorhandenen Fabriken zur Aufbereitung und Weiterverarbeitung. Roof Garden unterschied sich in diesen Dingen sehr von Dark Valley.
Ein Laden nach dem anderen reihte sich wie Perlen einer Kette aneinander. Das gängige Zahlungsmittel waren Credits in verschiedenen Farben, die wiederum unterschiedlichen Wert besaßen. Wer hier lebte, musste keinen Hunger leiden, war jedoch genauso abhängig vom Gutdünken der Regierung, wie jeder andere Bewohner New Londons. Wer sich auskannte, der konnte seinen Lebensstandard auf dem Schwarzmarkt sogar noch verbessern. Silber- und Goldschmuck aus dem 21. Jahrhundert, der nicht der großen Katastrophe zum Opfer gefallen war, war heiß begehrt. Die Rebellen beteiligten sich an dem florierenden Schwarzmarktgeschäft und erwirtschafteten einen ansprechenden Nebenverdienst.
Kayden sorgte mit seinem schwarzen Ledermantel, der Lederhose, der an der Brust zusammengeschnürten Weste und den Stiefeln jedoch für Aufsehen. Seine schulterlangen schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und verliehen seinen Gesichtszügen eine gewisse Härte. Zudem betonten sie seine himmelblauen Augen umso intensiver. Samuel fiel mit seinem weinroten Pullover und der dunklen Lederhose ebenfalls auf. Damit unterschieden sie sich deutlich von der meist dunkelgrünen Kleidung der Bewohner der Stadt.
Sie beschlossen daher, eine Abkürzung zu nehmen und bogen in die nächste Seitenstraße ab. Gerade, als Kayden um die Ecke ging, prallte er mit jemandem zusammen. Überrascht taumelte er zwei Schritte zurück. Ihm lag bereits ein derber Fluch auf der Zunge, den er jedoch hinunterschluckte, als er in die weit aufgerissenen Augen einer jungen Frau starrte. Mit den Händen in die Hüften gestemmt funkelte sie ihn an.
»Verfluchter Idiot! Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst?«, fuhr sie ihn an. Dabei fiel ihr eine vorwitzige Haarsträhne aus der haselnussbraunen Lockenpracht über die Stirn bis zur Nasenspitze. Sie pustete sie frech aus dem Gesicht, hob eine Hand und tippte mit dem Zeigefinger auf Kaydens Brust. »Lass dir gefälligst die Augen richten, bevor du unschuldige Leute auf der Straße anrempelst. Männer! Ihr seid doch alle begriffsstutzige, hirnlose und nervige Wanzen. Geh mir aus dem Weg, sonst …«
»Paige?«, rief eine Männerstimme. Im nächsten Augenblick tauchte ein junger Mann auf. Er wirkte mindestens genauso überrascht wie Kayden. »Paige, was ist los? Hat der Typ dich belästigt?«
Kayden und Samuel tauschten einen fragenden Blick aus und zuckten die Schultern. Sein Freund war ihm keine Hilfe, umso neugieriger musterte er die Fremden. Beide trugen schwarze Kleidung. Diese Tatsache verriet ihm sofort, dass sie nicht aus Roof Garden oder Dark Valley stammten. Zudem war ihre Kleidung sauber, roch nicht und besaß keine Flicken oder Löcher. Das bedeutete, sie gehörten zu den Privilegierten und stammten aus Gouvernement Seat. Das war allerdings seltsam, denn niemand, der oberhalb der Wohnterrassen lebte, mischte sich freiwillig unter die normale Bevölkerung. Die Abscheu des jungen Mannes, der ihn aus grauen Augen anstierte, und das grimmige Gesicht seiner Begleiterin ließen für ihn keinen anderen Schluss zu.
»Verschwinde und lass deine dreckigen Finger von meiner Schwester.« Der junge Mann schob sich beschützend vor sie.
»Ich kann mich selbst verteidigen, Dale«, sagte sie und drängte sich wieder nach vorn. Schmollend schob sie die Unterlippe vor.
Für Kayden stand es außer Frage, wer von den beiden das Sagen hatte. Sie war zwar einen Kopf kleiner als ihr Bruder, aber schien ebenso impulsiv wie anmaßend zu sein. Er öffnete den Mund und wollte etwas erwidern, aber die junge Frau kam ihm zuvor.
»Hast du genug geglotzt? Können mein Bruder und ich dann vorbei?«
»Ähm«, stotterte Kayden irritiert.
Sie stieß ihn grob zur Seite und rümpfte die Nase, als sie an ihm und Samuel vorbeilief. Plötzlich drehte sie sich noch einmal um. »Hat euch schon mal jemand gesagt, dass ihr stinkt? Ihr seht aus wie heruntergekommene Niemandslandarbeiter. Ihr solltet dringend ein Bad nehmen.« Bevor die letzte Silbe verklungen war, wirbelte sie herum und zog ihren Bruder am Ärmel seines Pullovers hinter sich her.
Normalerweise ließ sich Kayden nichts von arroganten Gören sagen, und sie fiel genau in diese Kategorie, aber sie hatte ihn so überrumpelt, dass er nur froh war, dass sie und ihr Bruder verschwanden.
»Was für eine blöde Kuh«, flüsterte Samuel.
»Sie hätte nur höflich fragen müssen, ob wir einen Schritt zur Seite gehen.«
»Was macht die erst, wenn sie sauer ist?«
»Vielleicht verprügelt sie ihren Bruder.« Kayden grinste und beobachtete das Geschwisterpaar, das im Laufschritt in der Menschenmenge untertauchte.
»Dann bin ich froh, dass ich keine Schwester wie die ertragen muss.« Samuel lachte und wollte bereits weiterlaufen, als er einen leisen Pfiff ausstieß. »Hey, sieh dir das an.« Er beugte sich nach unten und hob einen Goldring vom Pflaster auf, den er Kayden in der hohlen Hand präsentierte. »Ich gehe jede Wette ein, den haben die beiden verloren.«
»Zeig mal her.« Kayden nahm den Ring und besah ihn sich näher. Es war ein einfacher, schlichter Ring, aber auf der Innenseite waren mit filigranen Buchstaben die Worte ›In Liebe Aaron‹ eingraviert.
»Bestimmt gestohlen«, schlussfolgerte Samuel.
»Egal. Wir können ihn auf dem Schwarzmarkt eintauschen.« Mit einem frechen Grinsen steckte Kayden das Schmuckstück in die Hosentasche und fiel in das Lachen seines Freundes ein.
Nach zwanzig Minuten strammen Fußmarschs erreichten sie endlich ihr Ziel. Was sie allerdings vorfanden, erschütterte sie tief bis ins Mark. Bereits von Weitem sahen sie dunkle Rauchwolken aufsteigen, und je näher sie kamen, desto lauter wurde es.
Dort, wo der weiße Kalksteinbau der Kirche der neuen Religion mit dem natürlichen Felsen verschmolz, war nur noch ein klaffendes Loch. Der Geruch von Schwefel und Aschewolken erfüllte die Luft. Feuer drang aus den zahlreichen eingestürzten Gebäuden, die an die Kirche grenzten. Überall herrschten Panik und Chaos.
Entsetzt huschten Kayden und Samuel zur nächsten Ecke. In sicherer Entfernung beobachten sie die Soldaten, die auf angsterfüllte schreiende Menschen feuerten, die dabei in alle Richtungen flohen. Zwei Militärgleiter nahmen die Ruine immer noch unter Beschuss.
»Wir müssen weg«, rief Samuel über den Lärm hinweg.
Kayden stand jedoch wie gelähmt da. Das angebliche Gerücht hatte sich in schreckliche Wahrheit verwandelt.
»Kay? Komm schon. Wir müssen verschwinden«, drängte Samuel und zog ihn am Arm.
Diese Worte lösten ihn aus seiner Erstarrung. Verwirrt schweifte Kaydens Blick auf der Suche nach einem Versteck umher und endete abrupt, als er eine Drohne entdeckte, die in ihre Richtung kam.
Wieder Herr seiner Sinne wirbelte er herum und rannte mit Samuel zurück. Nach nur wenigen Metern wurden sie abrupt gestoppt. Acht bewaffnete Soldaten tauchten wie aus dem Nichts auf und versperrten ihnen den Weg. Die Läufe der Maschinengewehre zeigten auf sie.
»Hände hoch«, befahl einer der Soldaten. Seine Stimme klang dumpf und hohl unter dem Schutz seines hinuntergelassenen Visiers.
»Wir haben nichts ge…«, setzte Samuel an, doch die letzte Silbe wurde von einem Knall, gefolgt von einem gellenden Schmerzensschrei verschluckt.
Aus den Augenwinkeln sah Kayden seinen Freund zu Boden gehen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht umklammerte er seinen blutenden Oberschenkel.
»Wer nicht gehorcht, wird bestraft«, sagte der Soldat, der den Schuss abgegeben hatte.
Kayden reagierte automatisch und wollte sich zu seinem Freund hinunterbeugen, als ihn im selben Moment eine Schmerzexplosion erfasste. Sein Körper erstarrte, begann von innen heraus zu brennen und wurde dabei schwer wie Blei. Zeitgleich legte sich ein schwarzer Schleier vor seine Augen. Er fiel. Die Erde schien sich unter ihm aufzutun und er wurde von einem bodenlosen Schlund verschlungen.
So also fühlt sich der Tod an, dachte er, während er machtlos in eine tiefe, unbekannte Schwärze sank.

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Kapitel Drei

Der Schein ist ein gefährlicher Betrüger. Gerade wenn du glaubst mit ernsten und hohen Dingen beschäftigt zu sein, übt er am meisten seine täuschende Gewalt.

– Mark Aurel –

Paige lief wütend voraus. Ihr Bruder Dale musste sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten.
»Was bildet sich dieser Hosenscheißer ein? Gestunken hat er auch noch«, schimpfte sie und ignorierte geflissentlich die Blicke der Leute, an denen sie vorbeiging.
»Du hättest ihm ja ein Bad anbieten können«, spottete ihr Bruder und lachte.
»Das ist nicht witzig.« Sie wirbelte herum. Finster dreinblickend taxierte sie Dale. »Und wo warst du? Du hättest hinter mir sein müssen«, warf sie ihm vor.
Überrumpelt starrte er sie an.
»Was ist, wenn der Trottel und sein Begleiter etwas gehört oder gesehen haben? Der andere Typ hat übrigens auch gestunken.« Um ihre Worte zu unterstreichen, rümpfte sie die Nase.
»Ganz ehrlich? Die zwei haben nichts mitbekommen. Die waren genauso überrascht wie wir.«
»Woher willst du das wissen?«
Dale seufzte. »Das hättest du gesehen, wenn du nicht so beschäftigt gewesen wärst, dich wie ein kleines, verwöhntes Kind aufzuführen, das zum Geburtstag nicht sein Wunschspielzeug geschenkt bekommen hat. Die waren genauso überrascht wie du.«
»Mach so weiter, und ich erzähle es Dad«, gab Paige gekränkt zurück.
»Schwesterchen, willst du mir drohen?« Dale grinste. »Ich erinnere dich daran, dass du das bei mir noch nie geschafft hast. Und was soll Dad tun? Mich übers Knie legen, weil du schlechte Laune hast?« Jäh wurde er ernst. »Lass uns endlich verschwinden, bevor wir wirklich auffallen.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, setzte er den Weg fort.
Paige ballte die Hände und konnte kaum ihre Wut zügeln. Sie wusste jedoch, ihr Bruder hatte recht. Sie durften nicht auffallen und mussten sich beeilen. Sie waren ohnehin spät dran.
»Zu deiner Beruhigung … ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand etwas mitbekommen hat«, sagte Dale, als Paige zu ihm aufschloss. »Die zwei wirkten eher, als wären sie auf der Flucht. Wenn sie es bis dahin nicht waren, dann spätestens nach deiner Standpauke.«
»Und wenn sie uns erkannt haben?« Paige fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut und ließ sich deswegen auch nicht auf Dales Sarkasmus ein.
»Unsinn.« Er schnaubte. »Vergiss sie endlich. Die sind schon über alle Berge. Wir müssen so schnell wie möglich zum Shuttle zurück.«
Damit schien für ihn das Thema erledigt zu sein. Paige kannte ihren Bruder gut genug, um zu wissen, wann sie kein Wort mehr aus ihm herausbringen würde. Sie zog das Tempo an und lief schließlich wieder voraus. Trotzdem wurde sie das mulmige Gefühl in der Magengegend nicht los. Es war nicht die typische Nervosität, wenn sie sich in Roof Garden aufhielt, sondern dieses Mal war es etwas völlig anderes. Etwas Merkwürdiges geschah hier, ohne dass sie es näher benennen konnte.
Als hätte Dale ihre Gedanken gelesen, hielt er sie am Arm fest und zwang Paige, stehen zu bleiben. »Hör auf, dir unnötige Sorgen zu machen. Wir haben die Informationen, und nur darauf kommt es an. Alles andere ist unwichtig. Im Moment zählt nur unser Auftrag.«
Sie nickte kaum merklich, riss sich los und marschierte schweigend weiter. Dale war schon immer der Vernünftigere gewesen. Paige dagegen war impulsiv, starrköpfig und forsch. Ihr zwei Jahre älterer Bruder zog sie gern mit ihrer Sturheit auf, wohingegen sie stets argumentierte, dass sie sich als einziges weibliches Wesen im Haus Greaves behaupten musste. Zudem genoss sie alle Freiheiten, die ihr von Geburt an in die Wiege gelegt worden waren.
Ihr Bruder und ihr Vater waren ihre ganze Familie, nachdem ihre Mutter vor achtzehn Jahren, kurz nach ihrer Geburt, bei einem tragischen Gleiterabsturz ums Leben gekommen war. Aaron Greaves hatte seine Kinder allein großgezogen, ihnen die beste Schuldbildung von ganz New London zu Teil werden lassen und ihnen jeden Wunsch erfüllt. Er konnte sich dieses Privileg erlauben. Aaron Greaves war ein einflussreicher Mann, saß im Regierungsrat und arbeitete als Leiter in der Genforschung, einer Unterabteilung des Militärs.
Nach wenigen Minuten Fußmarsch zogen sich Paige und Dale unbemerkt in einen unscheinbaren Hinterhof einer Bäckerei zurück. Frank, der Besitzer, war nicht nur ein tüchtiger und wichtiger Informant von Aaron Greaves, sondern auch ein erfolgreicher Händler. Unterhalb der Backstube lagerte er daher nicht nur Mehl, Getreide, Zucker und Hefe, sondern auch alten Schmuck und jede Menge Schrott. Alles Dinge, die er auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Und in diesem Keller befand sich ein heimlicher Zugang in die Abwasserkanäle. Das Ziel der Geschwister.
Mit kleinen Taschenlampen, die sie mit einem Klettband am Handgelenk befestigten, stiegen sie durch einen separaten Kellereingang im Hof in den Lagerraum hinab. Zwischen voll beladenen Regalen und zentnerschweren Säcken bahnten sie sich einen Weg bis zur hinteren Wand. Paige schob den Ärmel ihres schwarzen Pullovers nach oben und fuhr mit ihrem Implantat-Chip über einen dunklen Fleck im Mauerwerk, der aussah wie Ruß. Wie aus dem Nichts erschien an dieser Stelle ein Tastenfeld. Sie hatte das Hologramm ausgeschaltet. Eilig tippte Paige einen Zahlencode ein, bestätigte und wartete, bis sich rechts daneben ein weiteres Hologramm, das wie ein Teil der Mauer aussah, deaktivierte und die Sicht auf eine Stahltür freigab. Zugleich erschien wieder der Fleck.
Schweigend öffnete Dale die Tür. Paige huschte hinein, gefolgt von ihrem Bruder. Ein Klicken verriet, dass sich die Stahltür hinter ihnen verriegelt hatte.
Sie huschten einen schmalen Kanal entlang, in dem vor Jahrzehnten noch Abwasser geflossen war. Durch die mittlerweile neu angelegten Kanäle war dieser einfach in Vergessenheit geraten. Leider auch der verweste Unrat und der damit einhergehende Gestank. Spinnennetze zierten die Wände und die Decke, Mäusekot verteilte sich über den Boden und in der Dunkelheit knisterte und fiepte es.
Paige mochte die Finsternis nicht. In der Enge des Kanals fühlte sie sich unwohl. Sie hatte zwar keine Angst vor dem herumwuselnden Ungeziefer, doch manchmal spielte der Verstand ihr Streiche. Ihre größte Furcht war es, unter herabstürzendem Gestein und bei lebendigem Leib begraben zu werden. So verlassen dieser unterirdische Teil der Stadt auch war, so vernachlässigt war er auch. Die kleinste Erschütterung konnte die Konstruktion ins Wanken bringen und die Decke einstürzen lassen. Wenn das geschehen würde, wäre der Weg ins Freie für immer versperrt.
Ihr Vater hatte Paige vor Jahren erzählt, dass dieses Tunnelsystem von der Zeit der Erbauung der Stadt stammte. Uralte und weitverzweigte Abwasserkanäle reichten weit in den Berg hinein, wo sie sich in einem schwarzen Labyrinth mit dem neueren Höhlensystem verband. Wer sich hier nicht auskannte, würde einen der zahlreichen Ausgänge niemals finden.
Die Dark Rivers waren von der Welt draußen abgeschirmt und kein Bewohner würde sich freiwillig hierher wagen. Somit war es die sicherste Route, um von einem Punkt der Stadt zum nächsten zu gelangen, wenn man nicht gesehen werden wollte, vor allem nicht vom Militär.
Das war einer der Gründe, warum sich die Rebellen hier versteckten. Paige war bisher noch keinem von ihnen begegnet und verzichtete auch gern darauf, aber diese Dunkelheit war ihr Reich. Die Rebellen führten durch diese Gänge ihre Schmuggelkarawanen. Sie konnten von Dark Valley bis nach Gouvernement Seat schleichen, ohne gesehen und gehört zu werden.
Der Gedanke, einer zufällig patrouillierenden Rebelleneinheit zu begegnen, ließ sie plötzlich schneller werden. Paige und ihr Bruder hätten auch auf dem oberirdischen Weg zum Gleiter gehen können, aber den momentanen Aufruhr in New London fanden sie viel gefährlicher. Daher waren die Dark Rivers bestens geeignet. Außerdem kannten sie sich ein wenig aus, denn es war nicht das erste Mal, dass sie diese Abkürzung nutzten.
Innerhalb weniger Minuten hatten sie den Ausgang erreicht. Er befand sich unmittelbar in der Nähe eines Kontrollpostens zu Gouvernement Seat. Sie passierten eine Stahltür und standen im Keller eines verlassenen Wohnhauses. Zusammen stiegen sie die Treppe hinauf und von dort auf die Straße.
»Warum kann Lewis nicht allein nach Hause fliegen, und wir nehmen die Tunnel?, fragte Paige und hakte sich bei ihrem Bruder ein.
Sie hatten zwar die beklemmende Dunkelheit und Enge hinter sich gelassen, aber noch waren sie nicht in Sicherheit. Der letzte Teil der Strecke ängstigte Paige am meisten, denn er erinnerte sie an den verhängnisvollen Absturz ihrer Mutter. Fliegen mochte sie noch weniger als die Finsternis.
»Kennst du denn den Weg nach oben?« Dale sah sie fragend an und sie ließ den Kopf hängen. »Siehst du. Lewis ist ein guter Pilot«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Außerdem ist es nur ein kurzer Flug.«
Seine Worte erzielten jedoch nicht den gewünschten Effekt. »Ich weiß.« Paige seufzte und begann leicht zu zittern. »Ich habe nicht Angst wegen des Fliegens. Was ist, wenn die Soldaten den Gleiter plötzlich als feindlich einstufen? Dann schießen sie uns ab. Es reicht schon, wenn sie unschuldige Menschen töten, nur weil sie an eine Sache glauben, die Rushton und seine Männer nicht tolerieren.«
Dale blieb stehen und zog Paige fest in seine Arme. Beruhigend strich er ihr über den Kopf. »Schwesterchen, bitte mach dir keine Sorgen. Sie würden niemals auf ihre eigenen Leute feuern. Wir sind keine Rebellen. Lewis weiß genau, was er tut. Er kennt den neuen Militärcode. Also brauchst du dir überhaupt keine Gedanken machen.«
Paige hätte ihm gern geglaubt, doch ihr verkrampfter Magen sprach eine andere Sprache. Sie vertraute dem Militär nicht. Die Soldaten würden keine Sekunde zögern und einen Gleiter, der unbefugt durch den kontrollierten Luftraum von New London flog, nicht einfach ziehen lassen. Egal, ob Lewis den neuen Identifizierungscode kannte oder nicht. Die Soldaten handelten immer zuerst und stellten anschließend Fragen. Das war ein weiterer Gedanke, der ihre Furcht nährte und allmählich an ihrem Gewissen nagte. Sie konnte und wollte nicht die Augen verschließen, obwohl sie wusste, dass unschuldige Menschen gerade im wahrsten Sinn des Wortes abgeschlachtet wurden.
Sie wand sich aus Dales Umarmung und starrte ihn wild entschlossen an. »Wir müssen zurück. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Oder wir gehen zu den Rebellen. Die werden es nicht zulassen, dass man Sanaih und seine Leute umbringt.«
Ihr Bruder zog die Augenbrauen nach oben und sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an, der Paige einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Er musste nicht antworten, sie kannte bereits seine Antwort.
»Sie sind schon tot«, sagte er tonlos.
Paige schreckte zurück. Nicht seine Worte hatten sie verängstigt, sondern die Art, wie er sie ausgesprochen hatte. Emotionslos und gleichgültig. So kannte sie ihn nicht. Wutentbrannt starrte sie ihn an. »Wieso bist du so gefühlskalt? Sie töten Menschen! Menschen, die nichts getan haben.«
»Das weiß ich, Schwesterchen. Jetzt hör auf, wir müssen zum Gleiter.«
»Vielleicht ist es noch nicht zu spät«, fuhr Paige ihn energisch an. Sie drehte sich um und wollte zum Tunnel zurücklaufen, als Dale sie am Handgelenk festhielt.
»Lass mich los«, fauchte sie.
Ihr Bruder hielt sie mit eisernem Griff fest. »Das werde ich nicht. Du bist durcheinander. Weder du noch ich sind in der Position, etwas auszurichten. Mit viel Glück würden sie uns vielleicht gefangen nehmen. Wahrscheinlicher ist, dass man uns sofort erschießt. Willst du das? So helfen wir Dad kein bisschen. Also sei vernünftig und komm. Wir sind eh schon länger unterwegs als geplant. Dad macht sich bestimmt schon Sorgen. Bis jetzt ist uns auch kein Soldat auf den Fersen, und das sollten wir ausnutzen.«
Paige beäugte ihren Bruder forschend. Sie atmete einmal tief ein und wieder aus, die Hände zu Fäusten geballt. Dale schien plötzlich ein ganz anderer Mensch zu sein. Er klang so hartherzig und endgültig, dass sich ihr Herz zusammenkrampfte. Sanaih war Dads Freund. Schon oft hatte er mit ihnen zusammen gegessen, sie hatten geredet und gelacht. Und nun nahm ihr Bruder Sanaihs Tod hin, als wäre es etwas Selbstverständliches. Nein, das war nicht ihr Bruder, mit dem sie so viel erlebt hatte. Ihm hatte sie immer alles anvertraut, und wenn sie Angst verspürte, machte er ihr immer wieder Mut und nahm sie tröstend in den Arm.
»Was ist nur los mit dir?«, schrie sie ihn an.
»Das fragst du mich nicht ernsthaft, oder?« Er verzog den Mund zu einem schiefen, herablassenden Lächeln.
»Ich verstehe dich nicht mehr«, polterte sie weiter. Enttäuschung und Wut sprudelten an die Oberfläche. »Seit Monaten verhältst du dich schon komisch. Aber, dass du so etwas sagst, das verstehe ich nicht. Dale, du bist mein Bruder. Wir unterstützen uns immer gegenseitig. Werde endlich wieder vernünftig und denk darüber nach, was du da sagst.«
Das tat er offensichtlich nicht. Stattdessen ließ er sie los, drehte sich um und lief stur in die Richtung, in der Lewis mit dem Gleiter auf sie wartete.
Verloren stand Paige auf der Straße und kämpfte mit den Tränen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sich ihr Bruder von ihr abgewandt. Was war nur los mit ihm? In letzter Zeit stritten sie öfter miteinander, er hörte ihr kaum noch richtig zu und blieb gern für sich allein. Das alles hatte angefangen, als er den Posten als Assistent in Dads Forschungsabteilung angetreten hatte. Manchmal schien er kaum er selbst zu sein, und das bereitete ihr große Sorgen. Dale kam spät nach Hause und verschwand nicht selten ohne Abendessen in seinen Räumen, wo er sich sogar ein eigenes Labor eingerichtet hatte. Sie redeten weniger und zuweilen hinterließ er bei Paige den Eindruck, als wäre ihm alles egal. Für ihn zählten nur noch chemische Formeln. Ihr geliebter Bruder entfernte sich von ihr und veränderte sich zusehends zu seinem Nachteil.
»Kommst du endlich?«, rief er ihr zu. Dale war in einiger Entfernung stehen geblieben und wartete.
Nach kurzem Zögern rannte sie los.
Die nächste Viertelstunde strafte Paige ihren Bruder mit Nichtbeachtung. Etwas anderes hatte er ihrer Meinung nach nicht verdient. Während des Fluges nach Hause ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Enttäuschung und Trauer ergriffen von ihr Besitz.
Heute Morgen war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Nun wurde sie von Unverständnis und Verzweiflung erfüllt. Egal, wie sie die Ereignisse auch drehte und wendete, vermutlich hätte nichts die Entscheidung des Militärs von dem Anschlag abwenden können. Am wenigsten sie.
Diese Erkenntnis machte sie nervös. Umso mehr drängte sich die Frage auf, warum Rushton die Kirchenanhänger so hasste, dass er sie loswerden wollte? Waren sie mit ihren Hetzreden gegen die Regierung einen Schritt zu weit gegangen? Sie glaubte, den wahren Grund zu kennen. Die Rebellen waren für die Regierung ein wachsender Dorn im Auge. Durch Gerüchte angefacht fühlte sich Rushton gezwungen, den Mord an Sanaih und seiner Anhängerschaft durchzuführen, um die Rebellen aus ihren Schlupflöchern zu holen und ihnen womöglich sogar alles anzulasten.
Schließlich schlugen Kummer und Nervosität in Gereiztheit um. Hätte Wyler, der Spion von dem sie diese Nachricht erfahren hatten, nicht aus Versehen über den Anschlag geplaudert, hätten sie erst in den Abendstunden davon erfahren. Die Regierung hätte und würde einen zensierten Bericht über die Ereignisse an die Öffentlichkeit weitergeben, so wie sie es täglich tat. Die Wahrheit kannte kaum einer in New London.
Als der Gleiter sanft auf der Landeplattform des großen Anwesens von Aaron Greaves gelandet war, hielt Paige nichts mehr auf ihrem Sitz. Rasch löste sie den Sicherheitsgurt, sprang auf und öffnete die hintere Ladeklappe. Sie musste auf dem schnellsten Weg zu ihrem Vater und ihm berichten. Vielleicht konnte er noch rechtzeitig seinen Einfluss geltend machen, um das Schlimmste zu verhindern. Sie wünschte es sich so sehr, obwohl sie ahnte, dass es längst zu spät war.
Lewis, Privatsekretär und Vaters bester Freund, rief ihr noch etwas hinterher, doch sie hörte nicht zu und stürmte über den gepflegten Rasen in Richtung Villa.
Das zwei Hektar große Anwesen war ihr Zuhause. Es war durch einen künstlich angelegten Garten und einen Zaun von der Außenwelt abgeschirmt, inklusive eines unsichtbaren und höchst zuverlässigen Alarmsystems. Die Architektur des Hauses war innen wie außen einmalig. Es war dem neoklassizistischen Baustil der Südstaaten des einstigen Amerikas nachempfunden. Selbst die Säulen und das typische Giebeldreieck waren vorhanden. Ihr Vater war schon immer nostalgisch gewesen.
Vor der Doppelflügeltür, die nur äußerlich einer Holztür glich, denn in Wahrheit bestand sie aus Stahl, fuhr Paige mit dem Implantat-Chip über den Scanner. Die Tür glitt auf. Das System war so eingestellt, dass es nur Familienangehörige und Angestellte hineinließ, außer man lud Gäste ein. Jeder unbefugte Zugang wurde sofort ans Militär weitergeleitet. Im Inneren strotzte die Moderne und harmonierte trotzdem wunderbar mit den Kostbarkeiten aus dem 21. Jahrhundert, die ihr Vater sammelte.
Paige bog von der Eingangshalle nach rechts in einen Flur ab, an dessen Ende sich das Büro ihres Vaters befand. Mit schnellen Schritten näherte sie sich der geschlossenen Zimmertür und wollte bereits eintreten, als sie mitten in der Bewegung innehielt. Laute Stimmen drangen an ihr Ohr. Die eine gehörte ihrem Vater und die andere ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie hasste diesen Mann und er hatte die Dreistigkeit besessen, ihr Zuhause zu betreten.
Der Schock hielt nicht lange an und wurde durch ihre unersättliche Neugier ersetzt. Sie zog sich in die Bibliothek zurück, von wo aus es eine Verbindungstür zum Arbeitszimmer gab. Sie legte das Ohr an die Tür und lauschte.

*

Trübes Tageslicht flirrte durch die Fenster in Aarons Büro. Obwohl es hell war, vermochte das Licht nicht die dunkle Stimmung zu vertreiben, die sich seit George Rushtons überraschendem Besuch über das Anwesen gelegt hatte.
Wie lauernde Wölfe beäugten sie sich, so wie sie es immer taten, wenn sie sich gemeinsam in einem Raum aufhielten. Auch heute fochten sie mit stechenden Blicken ihren Kampf aus, der bereits Jahrzehnte zwischen ihnen tobte. Obwohl niemand in New London darüber sprach, so war es dennoch kein Geheimnis in der Führungsriege, wie gespannt ihr Verhältnis wirklich war.
Aaron saß in einem ledernen Ohrensessel hinter einem majestätischen viktorianischen Mahagonischreibtisch. Er lächelte, doch in seinem Inneren brodelte es. Vor langer Zeit hatte er gelernt, seine wahren Gefühle hinter der freundlichen Maske eines fachkundigen und geachteten Wissenschaftlers zu verbergen. Für sein Gegenüber war er jedoch weitaus mehr als nur ein Mitarbeiter und Ratsmitglied. Aaron war Rushtons helfende Hand. Diese Tatsache war ihnen wohl bewusst.
»Wie komme ich zu der Ehre deines höchstpersönlichen Besuches? Und, mit Verlaub, ohne Ankündigung und Leibgarde?« Aarons Stimme klang sachlich und höflich. Sein aufgesetztes Lächeln wurde breiter, innerlich wuchs allerdings seine Nervosität. Solange er für Rushton arbeitete, hatte dieser noch nie sein Haus betreten. Und jetzt, wo er es getan hatte, war es der ungünstigste Zeitpunkt, den er hätte wählen können. Er erwartete wichtige Informationen von einem zuverlässigen Informanten.
»Aaron, lass die Höflichkeitsfloskeln«, antwortete Rushton mit einer abwinkenden Geste. »Wir sind unter uns. Keine Abhörgeräte, somit keine Zuhörer. Meine Leibwache wartet im Gleiter auf mich. Oder muss ich mir plötzlich Sorgen machen?« Sein Blick glitt durch Aarons Arbeitszimmer, und er schien dabei den Wahrheitsgehalt seiner Frage, mit hochgezogenen Augenbrauen abzuschätzen. »Wir kennen uns lange genug und arbeiten eine Ewigkeit zusammen, da kann ich dir doch einen Freundschaftsbesuch abstatten.« Er lachte gekünstelt.
Aaron beobachtete ihn. Rushton spannte trotz seiner aufgesetzten Heiterkeit die Schultern an. Seine Freundlichkeit mochte vielleicht die Speichellecker im Regierungsrat besänftigen, aber nicht ihn. Er kannte George Rushton gut genug, um zu wissen, wann er etwas im Schilde führte. Aaron ärgerte sich, dass er keine Wanzen oder sonstige Aufzeichnungsgeräte in seinem Büro installiert hatte. Denn im Gegensatz zu ihm war auf Rushtons Wort kein Verlass. Er würde ihr Gespräch aufzeichnen, egal welches Mittel er dazu benutzte. Dementsprechend musste er sehr vorsichtig sein.
»Umso größer ist die Freude, dich in meinen bescheidenen vier Wänden begrüßen zu dürfen.« Aaron lächelte ebenfalls affektiert.
»Dieses glamouröse Grundstück nennst du bescheiden?«
Rushton schüttelte den Kopf und wurde schlagartig ernst. Das verlieh seinen ohnehin harten Gesichtszügen eine Kälte, die jedem, der ihn nicht kannte, eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Rushton war ein Mann mit zwei Gesichtern. Das eine war sein öffentliches, mit dem er jeden anlog, ohne rot zu werden. Sein privates kannten nur wenige Menschen und es war skrupellos und Angst einflößend. Aaron hatte das leidige Vergnügen, sie beide zu kennen. Obwohl Rushton schon auf die sechzig zuging, sah er nicht älter aus als höchstens vierzig. Das Warum und Wie blieben sein Geheimnis. Er trug stets schwarze maßgeschneiderte Anzüge und dunkle Hemden, dazu einen silbernen Ring am Mittelfinger, den er niemals ablegte. Ein Vollbart zierte sein Gesicht, den er jedoch akribisch stutzte. Das und seine dunkelbraunen Augen zeichneten ihn als das abgeklärte Ratsoberhaupt aus, das er war.
»Ich bin nicht hier, um dein Haus zu bewundern. Wir zwei profitieren seit jeher voneinander, und das ist der Grund meines Besuchs.«
Aaron hatte es geahnt und schluckte. »Ich verstehe.«
»Gut. Dann rede ich Klartext. Ich will endlich Ergebnisse.« Rushtons freundliche Miene war einer Maske aus Zorn gewichen und mit zusammengepressten Lippen starrte er ihn an. Die Augen funkelten. »Vor elf Monaten hast du mir versprochen, deinen Abschlussbericht der letzten Testreihe pünktlich vorzulegen und wo ist er? Deine Frist ist vor vier Wochen abgelaufen und meine Geduld auch. Bisher habe ich nichts in der Hand. Die Versuchsreihe müsste längst abgeschlossen sein. In einem halben Jahr findet das große Treffen der Sieben Städte statt und …«
»Es fehlen noch einige Experimente«, fiel Aaron ihm ins Wort. Bisher hatte Rushton immer geduldig gewartet, bis er ihm seine Resultate vorgelegt hatte. Die Tatsache, dass er ihn dieses Mal zu Hause aufsuchte, steigerte seine Unruhe. Wenn Rushton wüsste, was er wusste, wäre er sicherlich längst hingerichtet worden. So schwer es ihm auch fiel, er musste versuchen, sein Gegenüber so lange wie möglich hinzuhalten, so wie er es immer tat.
»Es fehlen noch einige Experimente«, wiederholte Rushton und schlug mit der Faust auf die Stuhllehne. »Das erzählst du mir jedes Mal. Langsam bin ich es leid. Dir ist hoffentlich klar, dass ich dich jederzeit ersetzen könnte? Für deinen Posten würden die meisten einen Mord begehen. Und dir fällt nichts dazu ein, als mich warten zu lassen. Der Junge ist schon fast zwei Monate alt, welche Tests benötigst du denn noch?«
Im ersten Moment war Aaron sprachlos. Es war weder die angestaute Wut noch das, was Rushton ihm an den Kopf warf, sondern die Wahrheit, die sich dahinter verbarg.
Anfang des 21. Jahrhunderts wurde die Genforschung durch die Ethik-Kommission anhand neu erlassener Gesetze drastisch eingeschränkt. Allerdings verloren diese Gesetze nach der großen Katastrophe ihre Rechtswirksamkeit. Während der Entstehungszeit New Londons und der anderen sechs Städte auf den anderen Kontinenten rückte der Erhalt der Menschheit schnell an erste Stelle. Es wurde ein Manifest ausgearbeitet, das der Genforschung alle notwendigen Mittel zusicherte. Damit endeten auch die moralischen Werte, und der Weg für jedes noch so grausame Experiment war frei.
Natürlich beinhaltete die Deklaration auch positive Aspekte. Spenderorgane konnten innerhalb weniger Stunden künstlich im Labor gezüchtet werden, Krankheiten wie Krebs, Hepatitis, HIV und viele andere, damals unheilbare und tödliche Krankheiten waren ausgemerzt. Darüber hinaus war es der Wissenschaft gelungen, das menschliche Gehirn weiter zu erforschen. Die daraus resultierenden Ergebnisse nutzte Rushton, um sich anstößiger Methoden zu bedienen und dazu benötigte er seinen besten Wissenschaftler. Aaron.
Die einzige Grenze, die die Forschung bisher vor ein Rätsel stellte, war die Heimsuchung in Form des todbringenden Virus Morbus Septic. Es gab kein Heilmittel. Bisher war es niemandem gelungen, diese Seuche auszurotten. Die kurzzeitige Immunitätspanne von zweiundsiebzig Stunden durch Black Silence genügte Rushton nicht. Er wollte mehr, weitaus mehr, und Aaron Greaves trug hierfür die Verantwortung. Das war aber noch lange nicht alles, was Rushton von ihm begehrte.
Aaron seufzte. Er musste mit Bedacht reagieren, denn er würde Rushton niemals das geben, was er sich noch sehnlicher wünschte als die Ausmerzung von Morbus Septic. Sein Wunsch ging viel weiter. George Rushton wollte den perfekten Soldaten heranzüchten lassen.
Von der Befruchtung der Eizelle bis zur Geburt und darüber hinaus gehörte alles zu Aarons Aufgabenbereich. Er war bisher der einzige Genforscher weltweit, dem die Entschlüsselung der vielschichtigen Gensequenzen und deren erfolgreiche Manipulation durch synthetische Nukleotid-Reihenfolgen gelungen war. Jedem anderen Wissenschaftler in diesem Bereich fehlte das notwendige Verständnis für die hochkomplexen Formeln, und genau das hielt Aaron die letzten Jahre am Leben. Rushton zog die Fäden, während er als Marionette tagtäglich ein nie Enden wollendes Theaterstück aufführte.
»Du willst mir drohen«, stellte Aaron nüchtern fest. »Hast du auch daran gedacht, dass deinen Leuten der nötige Weitblick für die Genmanipulation fehlt? Natürlich nicht. Die Formeln kann zwar jeder auswendig lernen und mithilfe unseres Großrechners vermutlich auch das richtige Ergebnis erzielen, aber was ist mit den etwaigen Abweichungen, die mit einkalkuliert werden müssen? Beim kleinsten Fehler hinter dem Komma wird die vorangegangene Gensequenz völlig auf den Kopf gestellt. Rushton, du bist kein Forscher, du bist ein Stratege, und dir fehlt auf meinem Forschungsgebiet das Wissen für das Wesentliche. Es gibt ein altes Sprichwort, das mein Großvater immer zu sagen pflegte: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Das solltest du dir bei deinen nächsten Drohungen immer vor Augen führen. Keiner deiner bevorzugten Studenten ist in der Lage, die Komplexität und all die kleinen Fehler und Abweichungen während des Reifungsprozesses abzuschätzen, wie ich es kann. Ich bin darin geübt, ich mache das täglich, und das seit über dreißig Jahren. Für dich ist es nur die simple Befruchtung einer Eizelle. Für mich ist es ein Schöpfungsakt, auch wenn er in einem sterilen Reagenzglas stattfindet. Ich erwarte daher von dir Geduld, wenn ich Dinge für dich erledige, von denen niemand etwas wissen darf. Du weißt genau, wie viele Fehlversuche wir bereits verzeichnen mussten.« Nachdem Aaron geendet hatte, war er mit sich und seinen nagenden Schuldgefühlen im Reinen. Zum Glück wusste Rushton nicht, dass ihm der Durchbruch längst gelungen war.
Für einen Augenblick verschlug es seinem Gegenüber die Sprache. Rushton knirschte mit den Zähnen und schien um eine passende Antwort zu ringen, während er die Stuhllehnen mit den Fingern fest umklammerte. Die Knöchel stachen bereits weiß hervor. »Und dennoch lieferst du mir keine Befunde«, brüllte er. »In den kommenden Wochen werde ich dir meine besten Studenten zur Seite stellen. Deine Aufgabe wird es sein, sie in deine Arbeit einzuweihen. Du wirst ihnen alles beibringen, was sie wissen müssen, schließlich lebst auch du nicht ewig.« George Rushton legte eine bedeutungsvolle Pause ein und ließ die unterschwellige Drohung wirken.
Aarons Gesichtszüge blieben emotionslos. Die Drohung hatte jedoch ihr Ziel nicht verfehlt. Er musste versuchen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, denn im Hinterkopf dachte er nur an seine Kinder. Wenn er in Gefahr schwebte, dann auch Paige und Dale. Vor allem, weil ihr Blut das derzeit kostbarste Gut auf der gesamten Erde war.
»Ich verlange von dir in den nächsten zwei Wochen erfolgreiche Ergebnisse«, befahl Rushton und fixierte ihn mit zusammengekniffen Augen. »Einen weiteren Fehlschlag kann und werde ich nicht dulden. Verstanden? Die Zeit läuft mir davon. Außerdem werde ich General Kerr befehlen, seine Truppen loszuschicken, um dir weitere Versuchsobjekte zu besorgen. Vor allem müssen die Lücken gefüllt werden, die Jensons Männer beim letzten Überfall auf die Gewächshäuser hinterlassen haben. Über hundert Soldaten hat er auf dem Gewissen. Und diese hundert will ich wieder zurück. Am besten gleich noch ein paar Hundert mehr.«
»Noch mehr Soldaten? Wir haben jetzt schon nicht genug Platz! Das Gefängnis quillt fast über und wir kommen nicht hinterher. Du verlangst von mir, dass wir die Gehirnwäschen im Fünfminutentakt über die Bühne bringen.«
»Das ist mir egal«, konterte Rushton und erhob sich. »Dann müssen deine Leute eben rund um die Uhr arbeiten. Von Jenson und seinen ach so treuen Anhängern lasse ich mich doch nicht zum Affen machen! Sie verdienen einen Denkzettel. Außerdem wird der Junge bis zum Städtetreffen noch nicht erwachsen sein, somit müssen die kybernetischen Implantate zum Einsatz kommen und …«
»Verdammt George …«, unterbrach ihn Aaron, sprang vom Stuhl auf und schlug mit den Handflächen auf die Schreibtischplatte. Mit seiner Contenance war es vorbei. »Immer nur noch mehr Männer. Sag mir, ist es das wirklich wert?«
»Was glaubst du?«
Sie lieferten sich mit ihren Blicken ein Duell.
»Du gehst langsam zu weit. Bisher kannst du von Glück reden, dass mit den Gehirnwäschen alles gut ging. Du hast genug Männer, die dir als Kanonenfutter dienen. Und was die neuen Implantate betrifft, sie befinden sich immer noch in der Testphase. Sie wurden noch nie im Einsatz ausprobiert.«
»Ich habe deine Hinhalterei so satt. Du weißt, was ich dir gesagt habe, also halte dich dran. Falls es dir entgangen sein sollte, ich kann auch anders. Und das weißt du.«
»Lass Cathrine aus dem Spiel.« Für einen Moment war Aaron versucht, sich Rushton zu schnappen und ihm langsam den Hals umzudrehen. Stattdessen bebte am ganzen Körper und atmete schwer.
»Du müsstest mich besser kennen, Aaron«, sprach Rushton. In seinem Tonfall klang deutlich die Ernsthaftigkeit seiner Worte mit. »Cathrine hätte nicht sterben müssen, wenn du damals das Kind nicht hättest sterben lassen. Danach warst du nicht mal fähig, den Kadaver zu obduzieren. Also tu, was ich dir sage, oder deine Kinder werden darunter leiden.«
»Das wirst du nicht wagen.«
Als Antwort grinste Rushton. Sein Sieg stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Bevor ich gehe, sollst du erfahren, dass du ab morgen viel zu tun haben wirst. Kerr und seine Soldaten haben heute den Kirchenanhängern und ihren Hetzparolen ein für alle Mal den Garaus gemacht. Du wirst also neue Männer bekommen. Darunter eignen sich sicherlich ein paar, um sie zu gehorsamen Soldaten umzuprogrammieren. Für dich ist das doch ein Kinderspiel.«
»Das hast du nicht wirklich?« Aaron hatte das Gefühl, als hätte sich ein unsichtbares Messer in seine Brust gebohrt. Sanaih war ein Freund von ihm und das wusste Rushton.
»Tu nicht so überrascht. Ich hatte es angekündigt und nun ist es passiert. Nicht einmal die Rebellen konnten etwas tun. Leider sind uns Jenson und seine Leute nicht ins Netz gegangen. Sie ahnten wohl, dass die Gerüchte eine Falle waren. Aber Kerr meinte, ein paar Rebellen wären trotzdem unter den Gefangenen.«
Aaron schwieg. Er war nicht fähig, etwas zu sagen. In Gedanken schwor er sich jedoch Rache. Rushton hatte bisher viel zu viele unschuldige Leben auf dem Gewissen, darunter seine geliebte Ehefrau. Schon bald musste er etwas unternehmen, und dazu benötigte er dringend Jensons Unterstützung.
»Ich gehe, der Regierungsrat erwartet mich.« Rushton stand auf und lief gelassen zur Tür. Bevor er hinaustrat, drehte er sich noch einmal um. »Du bist natürlich entschuldigt. Ich werde ihnen sagen, dass du dringend an einem wichtigen Experiment arbeitest. Ich wünsche dir noch einen wunderschönen Tag.« Daraufhin wandte er sich ab und verschwand.
Aarons Magen verkrampfte sich. Heute hatte Rushton seine langjährige Drohung tatsächlich Wahrheit werden lassen. Seine Familie schwebte in Gefahr und musste unbedingt beschützt werden vor dem Wahnsinn eines Wahnsinnigen.

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Kapitel Vier

Wer findig genug ist, eine Lüge glaubhaft darzustellen, mag lieber geradezu die Wahrheit sagen.

– Oscar Wilde –

Kayden hielt die Augen geschlossen, obwohl er seit einigen Minuten das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Er lauschte einem leisen, rhythmischen Piepen. Er wusste nicht, woher das Geräusch stammte, dennoch beruhigte es ihn und nährte seine Hoffnung, immer noch am Leben zu sein. So lag er nur da, horchte und sank zurück in den Albtraum, aus dem er erwacht war.
Gehetzt rannte Kayden eine schmale, dämmrige Gasse entlang, hinter sich hörte er angsterfüllte Schreie und markerschütterndes Getöse. Er wollte stehen bleiben und sich umdrehen, aber sein Verstand sagte ihm, dass er weiterlaufen und verschwinden musste. Mit schnellen Schritten hastete er einem hellen Licht entgegen, doch plötzlich war die Gasse verschwunden und einer undurchdringlichen Schwärze gewichen. Die Schreie waren verstummt, und er war von einer allumfassenden Finsternis umgeben. Verwirrt drehte sich Kayden im Kreis. Er hatte auf einmal das Gefühl, als würden die Dunkelheit und die Stille ihn erdrücken. Panik stieg in ihm auf. Sein Körper begann unkontrolliert zu zittern, ihm wurde schwindlig und er war gezwungen, sich hinzuknien.
»Wo bin ich?«, flüsterte er und erschrak, als seine Stimme wie ein ohrenbetäubender Knall nachhallte.
»Was ist passiert?«, murmelte er und schauderte, als ihm als Antwort ein heftiger Sturm entgegenblies.
Kayden versuchte auf den Knien zu bleiben, aber er wurde wie ein Grashalm im Wind umgeworfen und landete hart auf dem Rücken. Ein brennender Schmerz durchzuckte plötzlich seinen Körper …
Schlagartig schlug Kayden die Augen auf und wurde von einer gleißend hellen Schmerzexplosion geblendet. Sofort kniff er sie zusammen und sah weiße Lichtpunkte hinter den Lidern aufblitzen. Gleichzeitig erfasste ein stechender Schmerz seinen Kopf, der von einem qualvollen Pochen begleitet wurde. Es fühlte sich an, als würde ihm jemand glühend heiße Nadeln in die Schläfen rammen. Immer und immer wieder. Hektisch atmete er ein und aus. Hinzu kam, dass ihm übel wurde. Mehrmals schluckte er bittere Galle hinunter und kämpfte gegen den Würgereiz. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, bis er endlich wieder normal atmen konnte und die Übelkeit nachließ.
Kayden wollte sich zur Seite rollen, aber irgendetwas hinderte ihn daran. Also wagte er einen neuen Versuch und öffnete langsam die Augen, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Über seinem Kopf brannte eine grelle Neonröhre.
Was ist hier los? Wo bin ich?
Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war Samuel, der von einer Kugel in den Oberschenkel getroffen worden war. Danach wusste er nur, dass er in eine tiefe Schwärze geglitten war.
Kayden nahm wieder das rhythmische Piepen wahr, das er schon einmal gehört hatte. Er wollte den Kopf drehen und sich umsehen, aber das ging nicht. Sein Kopf war mit irgendetwas Hartem fixiert. Auch seine Hand- und Fußgelenke waren festgebunden. Es gelang ihm schließlich, aus den Augenwinkeln einige dunkle Umrisse von verschiedenen Apparaten zu erkennen. Und schließlich eine Infusionsnadel, die in seinem Arm steckte, und irgendeine hellgelbe Flüssigkeit in seine Venen pumpte.
Zitternd schluckte Kayden und bemerkte nebenbei, dass er nackt war. Lediglich ein Stück Stoff spürte er auf seinem Intimbereich.
Wo auch immer er war, was auch immer mit ihm passierte, er durfte nicht in Panik geraten. Deshalb beschloss er, sich zu beruhigen und über einen Fluchtplan nachzudenken. Und das am besten sofort, bevor derjenige zurückkam, der ihn hier festgebunden hatte.
Wenn er nicht tot war, und davon ging er aus, gab es in ganz New London nur einen einzigen Ort, der sich mit den Gerüchten deckte, die er schon oft von Jenson erzählt bekommen hatte. Nur widerwillig erinnerte er sich an die Schauermärchen. Er befand sich in einem Versuchslaboratorium des Forschungszentrums. Dafür sprachen die Fesseln. Falls sein Gefühl ihn nicht trog, höchstwahrscheinlich auch noch streng vom Militär bewacht.
Was sollte er hier? Warum war er noch am Leben? War er vielleicht ein Versuchsobjekt für irgendein geheimes Experiment, das …?
Kayden konnte den Gedanken nicht beenden. Dumpfe Schritte näherten sich ihm und mit ihnen laute Stimmen. Eilig schloss er die Augen und tat, als würde er schlafen.
Eine Tür wurde geöffnet und quietschende Schuhsohlen betraten den Raum.
»Warten Sie draußen«, sagte ein Mann mit einer Bassstimme.
Die Tür fiel ins Schloss zurück.
»Siehst du Walter, er schläft«, sprach eine zweite Stimme, die einen näselnden Unterton besaß.
»Bist du dir sicher, Taki?«, fragte der erste Mann zweifelnd.
»Hast du keine Augen im Kopf?«, kam die leicht genervte Antwort von dem Mann, der Taki hieß.
Kayden spürte, wie sich beide ihm näherten. »Der schläft wie ein Toter. Erst vor einer halben Stunde war ich hier und habe eine neue Flasche angehängt. Der hat so viel Benzodiazepine und Diprivan im Blut, das würde sogar einen Dinosaurier in Tiefschlaf versetzen. Es war einfach falscher Alarm.«
Kayden schoss ein Gedanke durch den Kopf. Sie hatten ihm Narkose- und Schlafmittel gegeben? Warum? Doch noch wichtiger war für ihn die Frage, wieso war er dann wach?
»Der Monitor im Kontrollraum hat einen erhöhten Herzschlag angezeigt und das EEG hat deutlich ausgeschlagen«, bestand Walter auf seiner Meinung und kontrollierte nebenbei die Elektroden auf Kaydens Brust, während sein Kollege die Infusionsnadeln überprüfte.
»Dann hast du Gespenster gesehen. Komm, lass uns gehen. Im Kontrollraum ist sonst keiner und mit Rushton will ich deswegen keinen Ärger. Er müsste bald zurück sein.«
»Der kommt heute nicht mehr.«
»Warum?«
»Heute ist doch die große Sitzung, Taki. Glaubst du, er macht sich vorher noch die Mühe, zu uns runterzukommen und die Neuen zu inspizieren? Das hat er nie getan. Und ich weiß, was ich auf dem Monitor gesehen habe.«
Taki seufzte. »Ich gehe und lass dich mit deinen Gespenstern allein. Der Typ liegt im Koma, und da bleibt er, bis der Befehl von oben kommt. Also lass uns verschwinden.« Beim Sprechen entfernte er sich.
Walter holte einmal tief Luft und stieß sie langsam aus. »Vielleicht habe ich mich wirklich getäuscht. Trotzdem könnte ich schwören, dass er vor wenigen Minuten hellwach war.«
Auf quietschenden Schuhsohlen verließen die Männer wieder den Raum und ließen Kayden zurück, der panisch die Augen aufriss.

*

Paige saß mit angewinkelten Knien auf dem Teppich im Arbeitszimmer ihres Vaters. Dale hatte den Lehnstuhl in Beschlag genommen, auf dem vor zwei Stunden noch George Rushton Platz genommen hatte. Ihr Vater tigerte nervös durch den Raum. In der Mitte des Zimmers war das Hologramm einer jungen, blonden Frau zu sehen, die von den neusten Vorfällen in New London berichtete.
»Heute kam es gleich an mehreren Plätzen in der Stadt zu blutigen Auseinandersetzungen. Wie wir von General Kerr persönlich erfuhren, wurden zwei Militärgleiter unter die Kontrolle der Rebellen und am Kontrollposten Fünf zwischen Dark Valley und Roof Garden zum Absturz gebracht. Dabei kamen achtzehn Menschen ums Leben, Dutzende wurden teils schwer verletzt. Doch das war erst der Auftakt zu einer Reihe von Straßenkämpfen. Das Militär war gezwungen, an mehreren Orten gleichzeitig einzuschreiten. Während in Dark Valley die Rebellen einen Konvoi mit Lebensmitteln und Black Silence-Impfdosen überfielen, sorgte eine weitere Einheit der skrupellosen Aufrührer für eines der grauenvollsten Massaker in der Geschichte der Stadt. Durch ein perfides Manöver ist es den Rebellen gelungen, die Kirche der neuen Religion in Brand zu stecken. Bei dem Feuer kamen über hundert Menschen ums Leben, darunter auch das Kirchenoberhaupt Sanaih. Nur durch das rechtzeitige Einschreiten von Sondereinheiten unter dem Kommando von General Kerr konnte Schlimmeres verhindert werden. Die schreckliche Bilanz des Tages lautet: hundertsechsunddreißig Tote und zweiundvierzig Verletzte.«
Das Bild der jungen Frau verblasste, und plötzlich tauchte George Rushton auf. Seine Gesichtszüge waren hart und seine Augen versprühten eine eisige Kälte. »Dieser mutwillige Akt gnadenloser Brutalität wird mit sofortiger Wirkung im Keim erstickt werden. Die Regierung lässt sich nicht erpressen. Die unschuldigen Opfer werden nach allen Mitteln des Gesetzes gerächt. Das verspreche ich, so wahr ich hier zu Ihnen spreche.«
Das Hologramm wechselte wieder zur Nachrichtensprecherin. »Unser Regierungsoberhaupt George Rushton und General Kerr haben sich bereits zu einer Sondersitzung mit dem Regierungsrat eingefunden, um den Makel dieser Stadt ein für alle Mal zu beseitigen. Liebe Mitbürger, das Militär ist ab sofort auf Ihre Hilfe angewiesen. Jeder noch so kleinste Hinweis auf den Verbleib der Rebellen soll dringend gemeldet werden. Als Belohnung erhält jeder, der zum Aufspüren der Aufständischen beitragen kann, tausend Credits. Wer jedoch mit den Rebellen sympathisiert, den erwartet dasselbe Schicksal. Verfolgung, Verhaftung und Hinrichtung.«
Das letzte Wort war kaum verklungen, da verschwand das Hologramm und es entstand eine bedrückende Stille.
»Das ist so typisch für diesen Wahnsinnigen«, polterte ihr Vater plötzlich los. »Nun hat er es geschafft, die Rebellen als Verräter hinzustellen, und die ganze Stadt weiß davon.«
»Dad …, bitte beruhige dich«, sagte Dale und wirkte besorgt. »Denk an deinen Blutdruck.«
»Der ist mir gerade egal«, schnaubte er und stemmte die Hände in die Hüften. »Wenn Rushton nicht bald aufgehalten wird, endet es schon sehr bald sehr böse.«
»Wie meinst du das?«, fragte Paige und sah ihn neugierig an.
Anstatt zu antworten, ging er zum Fenster und blickte hinaus in den Garten.
Paige beobachtete ihren Bruder, doch der zuckte mit den Schultern und verließ das Zimmer. Seine Gleichgültigkeit schockte und ärgerte sie, aber sie schwieg. Sie hatte vor, Dale heute noch zur Rede zu stellen, doch nicht hier und nicht jetzt. Während sie wartete, dass ihr Vater sein Schweigen brach, schwirrten ihr weitere Gedanken durch den Kopf.
Sie war Rushton bisher nur ein einziges Mal persönlich begegnet, und das lag ein paar Jahre zurück. Als sie ihn und ihren Vater heimlich belauscht hatte, war sie in ihrem Versteck geblieben, als Rushton das Haus verlassen hatte. Momentan war sie nicht gewillt, diesem Monster je wieder unter die Augen zu treten. Dieser Mann hatte absichtlich über die Nachrichten Lügen verbreiten lassen. Sie konnte die Tragweite des Ganzen kaum fassen.
Außerdem war sie verärgert. Im Gegensatz zu ihr hatte Vater Dale in die falschen Regierungsgeschäfte von George Rushton eingeweiht, sie kannte nur Bruchstücke, die sie zufällig aufgeschnappt hatte. Bisher kannte sie Rushton nur als einen schleimigen und arroganten Mann. Das allein genügte ihr, um ihn nicht zu mögen. Doch nun begann sie, ihn zu hassen. Sie hatte persönlich von dem Informanten Wyler erfahren, dass Rushton und General Kerr es waren, die den Angriff auf die Kirche befehligt hatten. Von Wyler wusste sie ebenfalls, dass die Rebellen nichts damit zu tun hatten. Das war leider auch schon alles.
»Paige, ich fürchte, es ist so weit«, rissen die ernst gesprochenen Worte ihres Vaters sie aus der Grübelei. »Du musst mehr erfahren, als mir lieb ist. Ich dachte immer, dass ich es von dir fernhalten könnte, aber mir bleibt keine Wahl. Bitte, mein Schatz, höre mir gut zu, denn es ist sehr wichtig.«
»Was ist denn los?« Irritiert blickte sie zu ihm auf, während er sich zu ihr umdrehte.
»Wie du weißt, war vorhin Rushton bei mir zu Besuch«, fuhr er fort. »Ich weiß auch, dass du an der Tür gelauscht hast, denn Lewis hat dich in der Bibliothek gesehen.« Er zwinkerte ihr zu. »Keine Sorge, ich bin dir deswegen nicht böse. Mich interessiert eher, ob du auch verstanden hast, über was wir uns unterhielten?«
Im ersten Moment fühlte sich Paige ertappt und murmelte eine Entschuldigung. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich wollte nicht lauschen, wirklich nicht. Es hat sich einfach so ergeben. Außerdem habt ihr über die Dinge gesprochen, mit denen ich nichts anfangen kann.«
Aaron lächelte, doch es wirkte gezwungen. »Dieses eine Mal ist es in Ordnung, Paige. Zurzeit gibt es Schlimmeres in dieser Stadt.«
Überrascht sah sie ihn an. Normalerweise duldete ihr Vater solch ein Verhalten nicht, obwohl er Dale und ihr gegenüber schon immer sehr tolerant war. Private Gespräche zu belauschen, überschritt eindeutig eine Grenze.
»Du und dein Bruder habt für mich doch diese wichtige Nachricht von Wyler abgeholt«, sagte er und lief hinüber zu dem Ohrensessel, wo er Platz nahm.
Paige erhob sich vom Boden und setzte sich auf den Stuhl. Plötzlich fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut. So kannte sie ihn nicht. Bisher war er noch nie so ernst ihr gegenüber gewesen.
»Rushtons Besuch kam nicht von ungefähr. Schon seit Jahren fordert er von mir ein Heilmittel gegen Morbus Septic, das es offiziell nicht gibt. Du und Dale, ihr kennt die Wahrheit. Ihr zwei … und auch ich … sind der lebende Beweis dafür, dass die Seuche aufgehalten werden kann. Wir benötigen die Impfungen nicht mehr, aber das ist leider sonst niemandem in New London vergönnt. Leider auch niemandem in den anderen Städten.«
»Du … du meinst … «, stammelte sie und versuchte zu verstehen, was er damit sagen wollte. »Heißt das …, nur wir sind gesund? Sonst keiner? Nicht einmal Rushton?« Fassungslos starrte sie ihn an.
Ihr Vater seufzte und nickte. »Ja, Schatz.«
»Aber … Du hast doch das Heilmittel gefunden. Ich dachte immer, dass auch andere …«
Er hob die Hand und brachte sie zum Schweigen. »Es tut mir leid, Paige. Glaub mir, ich wollte es dir schon lange sagen, aber ich wusste nicht wie. Dein Bruder kennt die Wahrheit bereits und ich habe ihn beim Andenken eurer Mutter schwören lassen, dass er es nie verrät. Kein Mensch in New London oder in den anderen Städten ist geheilt.«
»Moment!« Paige stand auf und umrundete den Schreibtisch. »Du behauptest allen Ernstes, dass nur wir drei gesund und alle anderen Menschen immer noch infiziert sind. Wieso? Warum nur wir? Und was hat das mit der Nachricht von Wyler zu tun? Warum weiß Rushton nichts? Er ist doch dein Boss.«
Ihr Vater senkte beschämt den Kopf. Sie dagegen wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Das alles ergab für sie keinen Sinn. In ihren Gedanken herrschte das Chaos. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass niemand laut über Morbus Septic in der Öffentlichkeit sprach und noch weniger von den Impfungen. Aber nie im Leben hätte sie angenommen, dass nur ihre Familie und sie diesem tödlichen Fluch entkommen waren.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich dich bisher nicht eingeweiht hatte«, sagte er leise. »Das alles hat seine Gründe.«
»Die müssen aber sehr wichtig sein, wenn du …«
»Bitte setz dich. Ich möchte es dir in Ruhe erklären«, bat er sie, doch sie lehnte ab.
»Nein danke. Ich will jetzt eine Erklärung, und zwar eine verdammt gute.« Sie blieb vor ihm stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Was er behauptete, konnte nicht wahr sein. Falls doch, dann kannte sie den Mann nicht, den sie bis zum heutigen Tag immer für den aufrichtigsten und liebevollsten Menschen hielt. Dass er sie jahrelang belogen hatte, war für sie unvorstellbar. Sie liebte ihn, vertraute ihm blind, doch in diesem Moment empfand sie eine unbeschreibliche Wut. Ihre Augen füllten sich mit Tränen der Enttäuschung, die sie allerdings erfolgreich wegblinzelte, und versuchte, die Ungeheuerlichkeit seiner Worte zu verdauen.
»Paige, ich habe das alles getan, um dich und auch die Bewohner von New London zu schützen«, begann er zu erzählen, ohne sie anzusehen. »Das musst du mir glauben, denn es ist die Wahrheit. Rushton herrscht wie ein Diktator über die Stadt und verschleiert sein Tun geschickt, indem er stets den Regierungsrat miteinbezieht. Doch das sind alles nur Speichellecker, die er bezahlt, damit sie zu allem Ja und Amen sagen. Der Schlimmste unter ihnen ist General Kerr. Wir können alle von Glück reden, dass Rushton noch weit davon entfernt ist, seine wahren Pläne in die Tat umzusetzen, wobei Morbus Septic nur eine kleine Rolle spielt. Du musst nämlich wissen … Er würde es nie zulassen, dass jeder geheilt wird. Das ist einer meiner Hauptgründe, warum ich bisher geschwiegen habe. Kein Mensch in Dark Valley würde jemals das Heilmittel zu sehen bekommen. In Roof Garden wahrscheinlich auch niemand. Rushton will seine willigen Arbeitersklaven nicht verlieren, die von ihm und seinen Launen abhängig sind. Und das ist noch lange nicht alles …« Er blickte zum ersten Mal auf und sah Paige traurig an. »Seit über zwanzig Jahren halte ich ihn hin, denn er will sich durch das Heilmittel schlichtweg New London gefügig machen. Im Moment sind sie abhängig von ihm und Black Silence, aber das würde sich mit der Heilung ändern. Vor allem würde er sich die Heilung teuer bezahlen lassen, indem er die Menschen von Dark Valley und Roof Garden noch härter schuften lassen würde. Wahrscheinlich unter schlimmeren Bedingungen als heute. Niemand, der in Gouvernement Seat wohnt, würde auch nur einen Spaten oder einen Schraubenschlüssel in die Hand nehmen. Solange jeder von Black Silence abhängig ist und Rushton dafür sorgt, dass jeder Infizierte seine Impfdosen erhält, hat er die Stadt unter Kontrolle. Verstehst du jetzt, warum ich niemandem das Heilmittel geben kann? Ich würde niemanden retten, sondern alle ins Verderben schicken.«
Paige war sprachlos. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit dem, was er ihr gerade anvertraut hatte. Das alles war zu viel für sie, und dabei hatte sie noch nicht einmal die sinnlosen Morde an Sanaih und seinen Anhängern verkraftet. Sie war nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen, so unbegreiflich war das, was sie eben gehört hatte. Daher ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Tränen rannen ihr über die Wangen und sie fing an zu zittern.
»Bitte, nicht weinen.« Ihr Vater stand auf und nahm sie tröstend in den Arm.
Schluchzend schmiegte sich Paige an ihn und glaubte, sie würde verrückt werden. Sie empfand Trauer und Wut, Enttäuschung und Verzweiflung. In welch einer Welt lebte sie nur?
Lange Minuten hielt sie sich an ihrem Vater fest, der sie liebevoll wiegte, bis sie endlich ihre Sprache wiederfand. »Ist das wirklich alles wahr?«, nuschelte sie kaum hörbar.
»Glaub mir, mein Schatz, ich wollte und will dich nie wieder anlügen. Ich habe schon viel zu lange geschwiegen. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, dass ich es dir nicht sagen wollte. Ich habe nur den Wunsch, und das war auch der Wunsch eurer Mutter, dass es dir und deinem Bruder immer gut geht. Ihr solltet nie mit den Machenschaften von Rushton konfrontiert werden, doch er lässt mir keine Wahl mehr. Ich kann ihn nicht mehr lange hinhalten und deswegen habe ich einen Plan gefasst, der wohl am besten für uns alle ist.«
»Du sprichst von den Rebellen«, ertönte eine Stimme, die Paige erschreckte.
Sie ließ von ihrem Vater ab und wusch sich tapfer die Tränen aus dem Gesicht, um Dale dann offen ins Gesicht zu blicken. Zu ihrer Überraschung wirkte er nicht mehr so gefühlskalt wie noch vor Kurzem, sondern er sah sie mit traurigem Ausdruck an.
»Wieso Rebellen?«, fragte sie leise.
»Jetzt, wo ich bereits angefangen habe, kann und will ich euch auch den Rest erzählen. Doch dazu möchte ich, dass auch Lewis dabei ist.«
Er betätigte einen Knopf an seiner Armbanduhr und Paige hörte, wie er mit Lewis sprach und ihn bat, ins Arbeitszimmer zu kommen.
»Ist es so weit?«, erkundigte sich Lewis, als er nur zwei Minuten später eintrat.
»Ich fürchte, ja«, bestätigte ihr Vater und lud seinen Sekretär und besten Freund ein, auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen.
Paige und Dale zogen sich ans Fenster zurück. Ihr Bruder hielt ihre Hand und drückte sie fest. Sie war froh, ihn an ihrer Seite zu wissen. Das verlieh ihr das Gefühl, nicht allein zu sein. Trotzdem war sie immer noch wütend und verwirrt und spürte ihren beschleunigten Herzschlag. Am meisten irritierte sie jedoch Dales Äußerung. Was hatten die Rebellen mit allem zu tun?
»Es geht um die Nachricht, die ich von Wyler bekommen habe«, begann ihr Vater ohne Umschweife und zog ein gefaltetes Blatt Papier aus einer Schublade seines Schreibtisches heraus. »Ich danke euch, dass ihr es geschafft habt, unbemerkt zu ihm hin und wieder zurückzukommen.« Er nickte ihnen anerkennend zu. Anschließend wandte er sich direkt an Lewis. »Jetzt ist es schon so weit, dass sich meine eigenen Kinder für mich in Gefahr begeben.«
»Aber das war doch nicht das erste Mal«, mischte sich Paige ein und fühlte sich gekränkt.
»Ich glaube, so hat dein Vater das auch nicht gemeint«, antwortete Lewis anstelle seines besten Freundes. »Es war heute kein gewöhnlicher Tag.«
»Das weiß ich. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
Paige sah Lewis und ihren Vater fragend an. Innerlich versuchte sie, sich auf weitere Hiobsbotschaften vorzubereiten, denn die ernsten Gesichter zeugten nicht gerade von Begeisterung. Ihre Neugier wuchs, genauso wie ihre Angst vor dem Ungewissen. Dale hatte heute Morgen die Nachricht in einem versiegelten Umschlag an sich genommen und in der Hosentasche versteckt. Was darin geschrieben stand, wussten immer nur ihr Vater und Lewis. Sie und ihr Bruder waren lediglich Kuriere, weil sie als Einzige nicht in der Menschenmenge von Roof Garden auffielen, aber vor allem, weil sie niemand kannte.
»Wyler hat einen neuen Dechiffrierungscode verwendet«, antwortete ihr Vater und sein Blick richtete sich auf die Nachricht. »Das hat mich ein wenig Zeit gekostet, um den Inhalt zu entschlüsseln. Das kann nur bedeuten, das Militär hat den alten Code geknackt. Doch das tut jetzt nichts zur Sache.« Er hob den Kopf. »Tatsache ist … General Kerr ist es heute Morgen gelungen, einen Rebellenüberfall in Dark Valley zu vereiteln. Wyler richtet mir aus, dass die nächste geplante Black Silence-Lieferung verschoben wurde. Das heißt, wir müssen einen neuen Tag und einen neuen Übergabeort bestimmen. Die Rebellen dürfen nicht noch einmal eine Lieferung verlieren. Jenson ist darüber bestimmt nicht erfreut. Ich muss mich dringend mit ihm in Verbindung setzen.«
»Was?«, platzte es aus Paige heraus. Mit ihrer Ruhe war es vorbei. Das Herz schlug ihr fast bis zum Hals und die Wut kam mit geballter Ladung zurück. »Hast du da gerade Rebellen gesagt? Und wieso Jenson? Er ist der schlimmste Verbrecher der Stadt! Was haben du und Wyler mit den Rebellen zu tun?«
»Schwesterchen«, meldete sich Dale zu Wort und musterte sie tadelnd. »Verrate mir bitte eines: Was hast du gedacht, um welche Nachrichten es sich handelt, die wir überbringen und abholen? Doch nicht wirklich um den normalen Schriftverkehr zwischen Dad und Wyler?«
»Dale, bitte«, sagte ihr Vater und stand auf. Langsam lief er auf Paige zu und wollte sie an den Händen fassen, aber sie drehte sich demonstrativ weg.
Er hatte ihr soeben die zweite Lüge ihres Lebens offenbart. Paige konnte es kaum fassen. Sie schäumte vor Zorn und Enttäuschung. Und ihr Bruder wusste die ganze Zeit davon. Ausgerechnet die Menschen, die sie über alles auf der Welt liebte, hatten ihr Vertrauen missbraucht, ganz besonders ihr Vater. »Verschwinde«, schrie sie ihn über die Schulter hinweg an. »Ich will keine Lügen mehr von dir hören. Zuerst erzählst du mir das von Rushton und jetzt willst du mir weismachen, dass du mit den Rebellen in Kontakt stehst. Ihr seid doch alle verrückt!«
»Das habe ich kommen sehen«, hörte Paige Lewis sagen. »Du kennst meine Meinung dazu, Aaron.«
»Ja, und ich bin nicht besonders stolz darauf«, gab er zur Antwort. »Paige, bitte hör mir zu. Es ist mir nie leicht gefallen. Hätte es eine andere Lösung gegeben, hätte ich doch niemals meine beiden geliebten Kinder auf solche gefährlichen Kurierdienste geschickt, aber …«
»Ach nein?«, Paige wirbelte herum und funkelte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Sie bebte am ganzen Körper. »Du hast mir erzählt, es wären Nachrichten aus deinem Labor, weil Rushton nichts mitbekommen darf. Du hast mir gesagt, Wyler und du, ihr arbeitet an einer neuen Gensequenz für die Gemüseaufzucht, damit das Gemüse mit weniger Licht schneller wächst. Und jetzt sagst du mir, dass auch das gelogen war. Gibt es überhaupt irgendwas, bei dem du mich nicht angelogen hast? Dad …, ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!«
»Paige …, bitte«, flehte ihr Vater und versuchte erneut, nach ihren Händen zu greifen, doch auch dieses Mal ließ sie es nicht zu, sie schlug sogar seine Hände fort. »Ich musste auf diese Notlüge zurückgreifen. Überlege doch mal, wenn du es gewusst hättest.«
»Ganz genau! Nichts hätte ich getan«, keifte sie und gab ihm die Antwort auf seine unausgesprochene Frage. »Ich hasse die Rebellen, genauso wie das Militär. Das sind alle Verbrecher! Und du machst mit beiden gemeinsame Sache! Hast du nur ein einziges Mal daran gedacht, was alles hätte passieren können, wenn jemand uns erwischt hätte? Nein! Denn sonst hättest du nicht mein Vertrauen ausgenutzt!«
In ihr tobte ein Sturm. Die Enttäuschung schnürte Paige beinah die Kehle zu. Ihr Vater hatte absichtlich das Risiko in Kauf genommen, dass ihr Bruder und sie vom Militär hätten verhaftet, gefoltert und sogar hingerichtet werden können. Unfassbar! In diesem Moment hatte sie das Gefühl, dass ihre heile Welt wie ein Kartenhaus zusammenbrach.
»Du kannst mich hassen, es ist dein gutes Recht«, räumte ihr Vater ein und seufzte mehrmals. »Glaube mir, ich hatte jedes Mal große Angst. Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, ich hätte sie wahrgenommen. Aber niemand durfte irgendetwas davon erfahren. Das musst du verstehen. Ein Ratsmitglied, das mit den Rebellen zusammenarbeitet, das ist ungeheuerlich. Wenn das herausgekommen wäre, wären wir alle in Gefahr gewesen. Doch solange du nichts davon wusstest, konntest du auch nie etwas ausplaudern. Jetzt weiß ich, dass es nicht richtig war, dich im Dunkeln zu lassen. Ich hätte dir von Anfang an vertrauen müssen. Es tut mir leid.« Er machte eine kurze Pause. »Du sollst wissen …, dein Bruder und du, ihr zwei wart genau die Richtigen dafür. Keiner hat bisher Verdacht geschöpft. Ihr zwei seid einfach nach Roof Garden gegangen und habt die Märkte besucht. Etwas Unverfänglicheres gibt es nicht, denn das kann euch nicht einmal Rushton verbieten. Verstehst du? Und Dale hatte von mir strikte Anweisungen, dir nichts zu sagen. Es war ohnehin gefährlich, dass ich ihn einweihen musste. Es tut mir wirklich leid.« Geknickt senkte er den Blick.
»Diese Erkenntnis kommt ziemlich spät«, giftete sie ihn an und schubste Dale und ihren Vater zur Seite. »Lasst mich in Ruhe! Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben!« Paige rannte aus dem Zimmer und blieb mit Tränen in den Augen im Flur stehen. Sie überlegte, wo sie sich am besten verstecken sollte, als sie die Stimme ihres Bruders hörte.
»Dad, das lief ja ganz nach Plan«, sagte Dale sarkastisch.
»Nicht du auch noch.«
»Paige beruhigt sich wieder«, warf Lewis ein. »Es war ein wenig viel für einen Tag. Außerdem hat sie es gut aufgenommen, finde ich. In ihr stecken die Greaves-Gene. Sie braucht nur Zeit, über alles nachzudenken. Paige ähnelte ihrer Mutter nicht nur äußerlich, sondern sie denkt und fühlt auch wie Cathrine. Sie ist stark.«
»Das ist sie … in der Tat«, bestätigte ihr Vater, und obwohl Paige es nicht sah, wusste sie, dass er lächelte.
»Und was machen wir jetzt?«, erkundigte sich Dale.
»Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als mit Jenson einen neuen Tag und Ort für die Übergabe zu vereinbaren. Und ich werde ihn fragen müssen, ob er uns hilft, wenn ich Rushton nicht geben kann, was er von mir verlangt.«

© Jana Martens

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