Leseprobe: Burning Wings


 

Cover Burning Wings

.

.

Aus der Saat des Guten entspringt stets ein Funke Dunkelheit, denn sie sind auf ewig miteinander verbunden.

.

Kapitel 1

Elijah

»Nein!«
Das Wort drang aus meiner Kehle und ich riss die Lider auf. Adrenalin strömte durch meinen Körper und Schweißperlen rannen mir die Schläfen hinab. Irritiert starrte ich an die weiße Zimmerdecke. Schwer atmend schloss ich die Augen und versuchte zu verstehen, dass es wieder nur ein Albtraum gewesen war. Einer von vielen, die mich seit über vier Jahren jede Nacht quälten.
Der Gedanke jagte mir einen eiskalten Schauder über den Rücken. Würde es jemals enden? Zitternd lag ich im Bett. Die grauenhaften Bilder und dämonisch verzerrten Stimmen verebbten nur langsam. Schon bald würden sie mich wieder malträtieren. Hinabreißen in die höllischen Tiefen der Träume, in eine Welt, die mir inzwischen so vertraut war wie die Wirklichkeit, in der ich ausschließlich hilflos zusah.
Warum wurde ich damit gefoltert? Diese Frage stellte ich mir bei jedem Aufwachen, fand jedoch bislang keine befriedigende Antwort darauf. Diese Ungewissheit lastete auf mir, wie die unleugbare Panik, nie mehr aus den Angsträumen zu erwachen. Obwohl sie nur eine simple chemische und physikalische Reaktion des Körpers waren, Geschehnisse im Unterbewusstsein zu verarbeiten. Einzig und allein bizarre Halluzinationen mentaler Aktivitäten im Schlafzustand. Trotzdem sagte ein kleiner Funke in mir, es musste mehr dahinter stecken. Mehr als das Offensichtliche.
Die Ärzte fanden keine plausiblen Erklärungen dafür, weshalb ich immer wieder von diesen Schreckensbildern heimgesucht wurde. Inzwischen hatten sie aufgegeben und ich resignierte ebenso. Blieb mir denn eine Wahl?
Niemand konnte mir helfen. Kein Einziger war im Stande, diese ständig wachsende Furcht vor dem Unbekannten zu vertreiben oder mir mein Gedächtnis zurückzubringen.
Seit dem schrecklichen Unfall lebte ich ein Leben, das nicht mir gehörte. Ich war ein Fremder im eigenen Körper. Zumindest fühlte es sich so an. Angeblich eine Abwehrreaktion auf das, was vor fast fünf Jahren geschehen war. Nach dem Frontalcrash mit einem Lastwagen lag ich ein Jahr lang im Koma. Ein schweres körperliches Trauma mit irreparabler Amnesie, so die Diagnose. Darüber hinaus waren meine Unterschenkel so zertrümmert worden, dass sie abgenommen werden mussten. Wöchentliche Sitzungen bei meiner Psychotherapeutin und selbst die über mehrere Monate andauernde Reha hatten nichts an dem intensiven Gefühl verändert. Ich war gefangen in dem Wrack, das andere Körper nannten. Gefoltert von Geschehnissen, die mich jede Nacht erneut heimsuchten.
Hilflos lachend öffnete ich die Augen. Mit einiger Kraftanstrengung stemmte ich mich in eine sitzende Position und blickte auf den Wecker neben mir.
»Verdammte Scheiße! Schon wieder verschlafen.«
Ich würde zum siebten Mal in Folge in Professor O’Neills Kurs für englische Geschichte platzen. Er hatte mich gewarnt, dass er ein weiteres Zuspätkommen nicht dulden und es der Universitätsdirektion mitteilen würde. Nach kurzer Überlegung beschloss ich, alle Vorlesungen für den Tag zu schwänzen. Sollten sie mich doch verwarnen und rauswerfen. Das Studium, das mir meine Eltern finanzierten, war ohnehin nur ein weiterer kläglicher Versuch, sich zu entschuldigen. Dafür, dass sie seit dem Unfall so taten, als würden sie ihren Sohn nicht mehr kennen. Diese Unterstützung war ebenso erbärmlich, wie die fünfhunderttausend Pfund Schmerzensgeld der Logistikfirma und die von ihnen spendierte Penthousewohnung in der Nähe der City University of London. Der betrunkene Fahrer hatte lediglich fünf Jahre auf Bewährung und dauerhaften Führerscheinentzug bekommen. Aber nichts und niemand brachten mir meine Beine und meine Erinnerungen zurück.
Hundemüde und frustriert hievte ich mich nach oben. Es war jedes Mal aufs Neue kräftezehrend, aufzustehen. Aber im Bett liegen zu bleiben, war keine Option. Meine vier Wände engten mich ein. Sie schienen mich jeden Tag zu verhöhnen und mir zuzuraunen, dass ich als Krüppel hilflos war und ich mir am besten die Decke über den Kopf zog. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Ich wollte hinaus ins Freie. Meinem selbst auferlegten Gefängnis entfliehen.
Routiniert griff ich nach der Flasche mit der Creme und rieb mir die Stümpfe ein, die in letzter Zeit immer öfter schmerzten. Anschließend nahm ich die speziell angefertigten Strümpfe, um am Ende die beiden Beinprothesen anziehen zu können. Inzwischen hatte ich gelernt, sie nicht mehr abstoßend zu finden. Sie ermöglichten mir, die Freiheit zu genießen. Durch monatelanges Training in der Rehaklinik waren wenigstens diese Bewegungen zu meiner zweiten Natur geworden.
Bis ich die Wohnung verließ, verging trotzdem eine Stunde. Der Weg führte mich direkt zu meinem Lieblingscafé. Ich überquerte die Straße und mich trennten nur wenige Meter von einem ordentlichen Kaffee, da spürte ich mein Smartphone in der Gesäßtasche vibrieren. Lustlos und dennoch neugierig zog ich es hervor und las den Namen meiner Schwester auf dem Display.
»Na klasse«, flüsterte ich und war für einen Moment versucht, den Anruf abzulehnen. Das wiederum hätte gewiss zur Folge, dass sie mich fortwährend nerven würde, bis ich endlich doch reagierte. Also nahm ich das Gespräch seufzend an. Warum sie mich sprechen wollte, wusste ich, noch bevor sie ein Wort sagte.
»Was ist nur los mit dir, Elijah?«, hörte ich Erins vorwurfsvolle Stimme.
»Eigentlich wollte ich das schöne Wetter genießen und einen Cappuccino trinken«, erwiderte ich missmutig.
»Das Sekretariat der Uni hat mich angerufen. Sie machen sich Sorgen um dich.«
»Echt jetzt? Mir geht es nicht anders als gestern. Ich habe einfach keinen Bock.«
»Das ist deine Standardausrede. So geht das nicht weiter. Du kannst nicht in den Tag hineinleben und tun und machen, was du willst. Mum weiß es noch nicht und wenn Dad …«
»Bla … bla … bla«, formte ich lautlos mit den Lippen und hörte ihr nur mit einem Ohr zu.
Immer wieder die gleiche Leier. Vorwürfe, Pflichten und Ansprüche, denen ich gerecht werden sollte. Das war alles, was ich von meiner Familie erwarten durfte. Mitgefühl gab es in ihrer Welt nicht.
Unbewusst wandte ich mich um und starrte den jungen Mann im nächstgelegenen Schaufenster an. Ein Unbekannter, der mich ständig im Spiegel ansah und sich fragte, wer er in Wirklichkeit war. Doch was zählten schon verlorene Erinnerungen an eine Zeit, die für meine Familie niemals existent waren. Ich war hoffnungslos versunken im Strudel des Nichtwissens und sie ignorierten genau diesen Fakt konsequent.
»Procede ex carcerem tuum! Erlöse dich aus deinem Gefängnis! Pugna!« Die Worte ertönten wie aus heiterem Himmel wispernd in meinem Kopf.
»Was?« Verdutzt blickte ich hinter mich. Wer hatte das gesagt?
Irritiert beäugte ich die Passanten, die wie aufgeschreckte Hühner an mir vorbei eilten. Jeder Einzelne schien nur mit sich selbst beschäftigt zu sein. Niemand beachtete mich. Mir fiel Erin wieder ein, die wie ein Wasserfall sprach und nicht einmal bemerkt hatte, dass ich kein Wort von dem, was sie sagte, mitbekommen hatte.
»Memento! Erinnere dich! Pugna!«
»Was hast du gesagt?«, fragte ich meine Schwester.
»Hörst du mir überhaupt zu? Du sollst endlich erwachsen werden! In vier Tagen wirst du vierundzwanzig und trotzdem übernimmst du keine Verantwortung für dein Leben.«
Schlagartig überkam mich das unverkennbare Empfinden, beobachtet zu werden. Voller Neugier wanderte mein Blick umher, bis ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Mann in mittlerem Alter und Anzug entdeckte. Er starrte mit einem süffisanten Grinsen zu mir herüber.
Verwirrter als zuvor musterte ich ihn. Selbst aus der Entfernung spürte ich den unangenehmen durchdringenden Blick, den er mir zuwarf. Er brachte mein Herz zum Rasen und ein eiskalter Schauder jagte mir über den Rücken. Im nächsten Augenblick versperrte mir ein vorbeifahrender Bus die Sicht und als er sie wieder freigab, war der Fremde verschwunden.
»… am Wochenende kommen wir zu Besuch«, sprach Erin und katapultierte mich mit den Worten in die Gegenwart zurück.
»Sorry, ich muss auflegen. Ich melde mich später«, schnauzte ich gereizt. Ohne eine Antwort abzuwarten, beendete ich das Gespräch und steckte das Smartphone in die Gesäßtasche zurück.
»Kämpfe dagegen an! Semper pugna!«, hallte es erneut in meinem Kopf und die Worte versetzten mir einen Schrecken.
Konfus drehte ich mich um die eigene Achse, da traf mich etwas Hartes von vorne an der Schulter. Aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelte ich rückwärts und wurde von zwei kraftvollen Armen aufgefangen. Einen langen Moment blickte ich in herrliche tiefblaue Augen, die mich völlig vereinnahmten. Augen, die mich verschmitzt studierten und ein inneres Feuer versprühten, das mir innerhalb eines Sekundenbruchteils die Luft zum Atmen nahm. Mein Magen verkrampfte sich. Ich wurde von einem merkwürdigen Angstgefühl erfasst, gleichzeitig fühlte ich mich dennoch auch irgendwie geborgen. Als ich jedoch ein verdächtiges Knacken an der rechten Beinprothese vernahm, kehrte meine miese Laune zurück. Wutschnaubend giftete ich den Fremden an: »Zum Teufel noch mal, was bist du nur für ein Trottel! Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst?«
»Hoppla! Was fällt mir denn da Leckeres in die Arme? Es freut mich auch, dich kennenzulernen.«
Konsterniert stierte ich den Mann an, der meinen Beinahesturz verursacht, aber auch verhindert hatte. Innerlich rang ich mit mir, doch meine Verärgerung gewann rasch die Oberhand.
»Den blöden Spruch kannst du dir sonst wo hin stecken«, sagte ich grimmig und löste mich unsanft aus seinem Griff. Ohne weiter auf ihn zu achten, zog ich das Hosenbein hoch und überprüfte die mechanische Konstruktion der Prothese. Vorsichtig bewegte ich sie und versuchte aufzutreten. Offensichtlich schien sie nicht ernsthaft beschädigt worden zu sein.
Der Typ musterte mich frech von oben nach unten und grinste.
Ich war jedoch nicht zu Scherzen aufgelegt. »Idiot! Glotz nicht so dämlich.«
Der Fremde ignorierte meinen Wutausbruch und zwinkerte mir zu. »Mein Name ist Roman. Und du bist?«
»Ähm … Elijah«, kam es aus meinem Mund, obwohl ich mir geschworen hatte, nicht zu antworten. Erneut nahm mich der seltsame Blick aus den leuchtenden Augen gefangen, begleitet von einem leichten Zittern, das mir durch Mark und Bein fuhr. Dieser merkwürdige Typ hatte etwas an sich, das mir nicht behagte, aber gleichwohl meine Neugier schürte. Es war jedoch seine Unverfrorenheit, die meine Empörung weiter nährte.
»Falls die Prothese was abbekommen hat, zahlst du!«
»Ich kann dir gerne zwei gesunde Beine schenken, wenn dir das lieber ist.«
Ich wurde von einer Woge rasenden Zorns erfasst. So eine Dreistigkeit war mir bisher noch nie untergekommen. Zu allem Überfluss schien sich mein Gegenüber köstlich zu amüsieren.
»Arschloch! Verpiss dich! Oder du erlebst gleich, wie ein Krüppel dich vermöbelt.«
»Hm. Würde ich an deiner Stelle lassen. Hinter dir stehen die Bullen.«
Erfreut über die glückliche Fügung des Schicksals sah ich über die Schulter. Dort standen aber keine uniformierten Polizisten. »Falls du das witzig findest, ist das …«, schmetterte ich ihm entgegen, endete mit meiner Schimpftirade allerdings abrupt. Der Fremde war verschwunden, hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Lediglich vorbeieilende Fußgänger warfen mir skeptische Blicke zu.
»Verdammt!«
»Erlöse dich aus deinem Gefängnis! Pugna!«, hallte es lautstark in meinem Kopf.
»Was ist das für eine verfluchte Scheiße?«
Die Leute um mich herum ignorierend, konnte ich mich kaum in Zaun halten. Unbewusst ballte ich die Hände zu Fäusten. Vermutlich drehte ich gerade durch. Der Tag hatte beschissen begonnen und er würde ganz gewiss so enden, falls ich nicht bald eine Ablenkung fand. Trotz meiner miserabelen Stimmung verspürte ich allmählich Hunger. Ich griff in die Hosentasche und zog meinen Geldbeutel hervor, mehr als fünf Pfund hatte ich jedoch nicht einstecken.
Der nächste Geldautomat lag einen halben Kilometer die Straße herunter. Das bedeutete einen längeren Fußmarsch und das vermutlich mit einer lädierten Prothese. Ob dem tatsächlich so war, konnte ich nur herausfinden, wenn ich sie beim Laufen belastete. Also setzte ich mich in Bewegung. Auf den ersten zehn Metern kam ich nur wacklig voran, dann fing ich mich und mir fiel ein großer Stein vom Herzen, als sie kein verräterisches Geräusch von sich gab.
Ich beschloss, den komischen Vogel aus dem Gedächtnis zu verbannen. Stattdessen entsann ich mich an das Gespräch mit meiner Schwester. In vier Tagen kämen sie und meine Eltern zu Besuch. Allein diese Vorstellung vermieste mir zusätzlich den ohnehin schon beschissenen Tag. Mein eigentlicher Plan sah vor, am Samstagabend mit meinen Kumpels von der Uni in einer einschlägigen Stripteasebar einen draufzumachen. Das konnte ich jetzt offenbar vergessen. Keine knackigen Ärsche von heißen Blondinen und Riesenmöpse von Brünetten. Dafür ein stinklangweiliges Essen in einem Schicki-Micki-Restaurant.
Nach gut zehn Minuten erreichte ich frustriert den Geldautomaten. Gerade als ich die Karte aus der Geldbörse herauskramen wollte, kreuzte eine junge Frau meinen Weg. Sofort fesselte mich ihr Auftreten. Langes dunkles Haar umschmeichelte ihr bildhübsches Gesicht, das von einer Traumfigur unterstrichen wurde. Helle Augen warfen mir einen atemberaubenden Blick zu und ihre Mundwinkel formten ein fröhliches Lächeln. Instinktiv erwiderte ich es. Der Tag schien doch noch etwas Positives bereit zu halten.
Dieses Hochgefühl dauerte nur wenige Sekunden an. Bereits im nächsten Moment verwandelten sich ihre sanften Züge in eine arrogante Maske. Hochnäsig stolzierte sie weiter und ich beobachtete, wie sie in den Bus stieg, der soeben angehalten hatte.
»Blöde Kuh!«, schnaubte ich verbittert und wandte mich dem Bankautomaten zu.
Ich hob sicherheitshalber gleich mehrere hundert Pfund ab. Vielleicht gönnte ich mir einen Abstecher in die nächste Bar, um den Tag vorzeitig zu beenden. Es konnte nur besser werden, denn am Tiefpunkt befand ich mich längst.
Warum hatte der Lastwagen seine Arbeit nicht vollendet? Dann wäre ich jetzt zwei Meter tief unter der Erde und die Welt würde sich im unendlichen Kosmos ohne mich weiterdrehen.
Doch das Schicksal dachte gar nicht daran, mich zu schonen. Es zeigte mir deutlich, dass meine Freunde keine wirklichen Freunde waren. Kaum lag ich im Koma, hatten sie sich von mir abgewandt. Ich war und blieb ein einsames menschliches Wrack.
Womöglich blieb ich für immer Single, drängte sich mir der schmerzvolle Gedanke auf. Welche Frau wollte schon einen Krüppel zum Freund? Von denen, die ich kennengelernt hatte, bisher keine.
Sogar meine weiblichen Kommilitonen verdeutlichten mir jedes Mal aufs Neue, dass ich außer Freundschaft, nichts erwarten durfte. Der einzige Mensch, mit dem ich reden konnte, war meine Psychologin Cathrine.

 

Kapitel 2

Elijah

»Dein Glaube ist unerschütterlich! Erinnere dich und kämpfe!«, wiederholte ich flüsternd die Worte, die andauernd in meinem Kopf erklangen, und musterte meine schmerzverzerrte Miene im Badezimmerspiegel. Ich hatte das Gefühl, als wolle mir mein Herz aus der Brust springen. Es raste unaufhörlich wie bei einem Pferd, das im rasenden Galopp über die Prärie hinwegfegte.
Kalter Schweiß bedeckte meinen Körper. Es kam mir vor, als würde siedend heiße Lava durch meine Adern strömen, die alles auf ihrem Weg verzehrte und nur Asche übrig ließ. Dennoch zitterte ich am ganzen Leib wie Espenlaub, denn ich fror, als stünde ich nackt in der Antarktis.
»Kämpfe?«, brüllte ich. »Gegen was soll ich kämpfen?«
Tränen der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit brannten mir in den Augen.
»Warum? Wieso quälst du mich so?«, fragte ich mit bleierner Stimme mein Konterfei.
»Die Macht der Dunkelheit wird stärker!«, hallte die Antwort in meinem Kopf.
Panisch wich ich zurück. Mein Atem kam stoßweise. Zwei unsichtbare Hände legten sich um meine Kehle und drückten zu. Von Angst befallen versuchte ich, mich aus dem Griff zu lösen. Doch je stärker ich um Luft kämpfte, desto vehementer schienen die Hände ihr Werk vollenden zu wollen.
»Erhebe dich aus der Asche und du wirst mächtiger sein als je zuvor! Erlöse dich aus deinem Gefängnis!«
»Ich … ich …«, stammelte ich von Furcht erfüllt und fiel haltlos zu Boden.
»Nur dein Tod bringt den Frieden!«
Kaum vernahm ich die Worte, spürte ich, wie der Druck um meinen Hals nachließ. Schwer atmend japste ich nach Luft. Ich lag ausgestreckt auf dem kalten Fliesenboden. Mein Steißbein schmerzte durch den ungebremsten Fall, doch ansonsten schien ich nichts weiter abbekommen zu haben.
»Ich werde wahnsinnig!«, wisperte ich in den Raum hinein.
Meine Gedanken waren ein einziges Chaos aus Bildern. Vor meinem inneren Auge tauchten unvermittelt Landstriche auf. Berge und Täler, Flüsse und Seen. Eine karge Felslandschaft umhüllte eine Sandwüste. Dahinter erhob sich ein saftig grünes Terrain. Ein See umschloss eine Insel voller fremdartiger blühender Pflanzen. Ich konnte ihren Duft deutlich riechen. Eine herrlich blaue Blüte stach unter allen hervor. Sie war einer Lotusblume ähnlich, und doch war es keine. Ihr angenehmer Geruch wirkte hypnotisierend.
Mein Pulsschlag verlangsamte sich und auch mein Atem ging wieder regelmäßig. Mit einem Mal fühlte ich mich frei und geborgen. Doch dieses Gefühl hielt nicht lange an. Schon in den nächsten Augenblicken löste sich das Bild auf und eine gewaltige Stadt tauchte vor mir auf. Ein Ort, der mir fremd und trotzdem vertraut war. Zahlreiche turmhohe Gebäude blickten auf mich herab. Sie schienen mich zu verhöhnen. Kilometerlange Straßenzüge führten direkt zum Zentrum. Dort bot sich mir eine Ansicht, die faszinierender nicht sein konnte. Weißer Marmor und Gold reflektierten die Sonnenstrahlen, die warm und wohltuend meinen Körper streichelten.
»Erinnere dich!«, brüllte mich die unsichtbare Stimme an.
»An was?«, schrie ich zurück. »An was soll ich mich erinnern?«
Langsam rappelte ich mich auf, wobei meine Prothesen mich etwas behinderten. Am Ende stand ich wieder vor dem Spiegel und starrte erneut hinein, aber das war nicht ich, den ich darin sah. Das Spiegelbild zeigte mir einen Mann, vielleicht ein paar Jahre älter als ich. Kastanienbraune Augen beobachteten mich voller Neugier. Dunkelbraunes, fast schon schwarz glänzendes Haar, umrahmte ein bewundernswertes Antlitz. So bezaubernd stellte ich mir einen Engel vor. Das Aroma von Mandelblüten stieg mir dabei in die Nase.
»Wer bist du?«, fragte ich. Wie in Trance beobachtete ich, wie die schmalen Lippen des fremden Konterfeis ebenfalls diese Worte formten. Eine Antwort blieb er mir jedoch schuldig.
Dann veränderte sich das Bild vor mir. Auf einmal betrachteten mich zwei rotglühende Augen, in denen sich lodernde Flammen widerspiegelten. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, mich zu erinnern. An einen Mann, bei dem ich ähnlich empfunden hatte, doch seine wahre Identität blieb wie hinter einem Schleier verborgen.
»Wer bist du?«, wiederholte ich die Frage.
Innerhalb kürzester Zeit wurde ich von malträtierenden Qualen erfasst. Krampfhaft hielt ich mich mit den Händen am Waschbecken fest, um nicht erneut zu stürzen. Jede Faser meines Körpers schien gegen mich selbst aufzubegehren. Es fühlte sich an, als würde etwas Unsichtbares an meinem Inneren zerren. Als wollten sie mich aus meinem verkrüppelten Leib vertreiben. Indes kehrten die grauenhaften Erinnerungen an den letzten Albtraum zurück, der mich vor wenigen Minuten wie ein Irrer vom Schlafzimmer hierher getrieben hatte.
»Kehre heim ins Reich deiner Brüder!« Die alles durchdringende Stimme donnerte mir den Satz in meinem Kopf entgegen. Für einen Moment glaubte ich, mein Schädel würde platzen.
»Kämpfe! … Jetzt!«
Ein nebelhafter Schleier waberte vor meinen Augen und ein folternder Schmerz erfasste meinen Rücken. Rasiermesserscharfe Klingen drangen in mein Fleisch, durchbohrten es und ich konnte nicht anders, als vor purer Agonie zu schreien.
»Nein! Aufhören! Ich kann nicht mehr!«
Vor Panik zitternd stolperte ich aus dem Badezimmer. Mit letzter Kraft streifte ich die Jeans über, schnappte meine Jacke und ergriff den Wohnungsschlüssel. Dann stürmte ich hinaus auf die Straße.
Die Morgendämmerung war bereits heraufgezogen. Der Trubel der Millionenstadt begrüßte mich mit seinem alltäglichen Chaos. Autos hupten, Busse kutschierten Pendler zur Arbeit und Menschen eilten achtlos an mir vorbei. Das alles nahm ich nur wie aus weiter Ferne wahr. Mein Blick richtete sich stur geradeaus. Wohin ich lief, wusste ich nicht. Ich wollte nur dem Wahnsinn entfliehen.
»Lauf, Elijah! Lauf!«, rief die inzwischen so vertraut gewordene Stimme mir in meinen Gedanken zu. »Du bist stark! Ich bin an deiner Seite! Ergreife das Band unserer Macht, zusammen sind wir Eins!«
Ich versuchte, sie zu ignorieren. Den Sinn hinter den Worten wollte ich erst recht nicht ergründen. Steckte überhaupt eine Bedeutung dahinter? Falls ja, entzog sie sich mir. Die logischste Erklärung war simpel wie naheliegend. Mein Verstand verabschiedete sich zusehends. Unbewusst flüchtete ich mich in eine Welt der Halluzinationen.
Einen Moment überlegte ich, Cathrine aufzusuchen. Sie hätte bestimmt eine plausible Begründung und womöglich eine Behandlungsmethode, um die Stimme aus meinem Kopf zu verbannen. Aber zu welchem Preis? Ich sah mich bereits in einer Zwangsjacke in einer Gummizelle, vollgepumpt mit Psychopharmaka.
»Du bist stark!«
»Bin ich nicht!«, brüllte ich zurück. »Lass mich in Ruhe! Was willst du von mir?«
Die irritierten Blicke der Passanten trafen mich, doch sie prallten an mir ab, wie Wasser an einer Fensterscheibe. Ich erhöhte stattdessen mein Tempo und merkte erst viel später, dass ich das Ufer der Themse erreicht hatte.
Verwirrt wanderte mein Blick umher. Wo ich mich befand, wusste ich nicht genau. Doch ich glaubte mich in der Nähe der Isle of Dogs. Die gläsernen Fensterfronten der Wolkenkratzer des Finanzviertels von London ragten vor mir in den Himmel empor. Ich hatte mehr als sechs Kilometer durch die City zurückgelegt. Als ich mich weiter umsah, entdeckte ich eine schmale Treppe, die am Flussufer direkt ans Wasser führte. Zielstrebig hielt ich darauf zu und setzte mich auf die oberste Stufe. Es wurde höchste Zeit, denn meine Beinstümpfe schmerzten. Viel zu oft in letzter Zeit. Knapp fünfzig Meter entfernt erspähte ich auf der anderen Seite der Themse das Fährenterminal von Canary Wharf.
Kaum hatte ich Platz genommen, trafen mich die Muskelschmerzen in den Oberschenkeln mit voller Wucht. Meine Lunge brannte und ich hatte Seitenstechen. So weit und so behände war ich in den vergangenen Monaten nie unterwegs gewesen. Das alles war jedoch belanglos. Ich wollte Antworten und war bereit, alles dafür zu tun, um sie zu bekommen.
»Wer bist du? Warum tust du mir das an?«, fragte ich laut in die Einsamkeit hinein, die mich umgab.
Nichts! Nichts als Stille in meinem Kopf.
»Ich bin bereit, dir zuzuhören. Also sag etwas!«
Ob ein Konfrontationskurs mit mir selbst die beste Lösung war, bezweifelte ich, aber ich wusste mir nicht anders zu helfen. Deshalb gab ich nicht auf.
»Tu, was du tun musst! Ich bin da und geleite dich.«
»Das ist so was von nicht hilfreich.« Seufzend schloss ich kurz die Augen. Anscheinend stellte ich die falschen Fragen.
»Du bist du und wirst es immer sein. Glaube an dich.«
»An was? An das Schicksal? An einen höheren Zweck im Leben? An Gott?«, fragte ich schnippisch. »Der gleiche Gott, der es zuließ, dass ich jetzt so bin, wie ich bin?«
Schwermütig strich ich mit den Fingern über die Beinprothesen, die ich unter dem Jeansstoff fühlte. Ohne sie würde ich in einem Rollstuhl mein Leben fristen, aber mit ihnen war ich nicht viel besser dran. Ich war ein junger Mann, dem nach dem Studium zwar vieles offen stand, der aber dennoch für immer gehandicapt bleiben würde. Verdammt dazu auf ewig Single zu sein, denn welche Frau würde sich schon mit einem Krüppel abgeben.
»Kehre nach Hause zurück und du wirst die Wahrheit erkennen. Sie ist zum Greifen nahe. Begreife, was es heißt, frei zu sein!«
»Frei? Wahrheit?«
Während ich darüber nachsann, was mein allmählich irrer Verstand mir sagen wollte, blickte ich hinauf zu den Wolkenkratzern. Ein unwiderstehlicher Drang erfasste mich. Dort oben lockte tatsächlich die Freiheit. Nur ein kleiner Schritt über die Kante und ich wäre losgelöst von allen Zwängen und Problemen. War das die Wahrheit? Lag darin die Lösung? Der Gedanke war durchaus reizvoll.
»Erlöse dich aus deinem Gefängnis! Der Tod bringt Frieden!«
Dieses Mal nahm ich die Worte der unsichtbaren Stimme an. In ihr schwang eine Sehnsucht mit, die mein Herz erfasste und mir eine aufmunternde Gelassenheit schenkte. Solch ein Gefühl war mir bisher fremd. Ich genoss es in vollen Zügen, während mein Blick auf dem höchsten Gebäude in meiner Nähe ruhte.

.

Kapitel 3

Luzifer

Ich öffnete die Augen und ordnete meine Gedanken. Es dauerte einen Moment, denn die Astralreise durch den Äther war selbst für meine PSI-Kräfte anstrengend. Smaragdgrüne Augen musterten mich wissbegierig.
»Ich fasse es nicht!«, wetterte ich los, »War er schon immer so schwer von Begriff?«
»Was meinst du damit?« In Raphaels Tonfall stach deutlich die Besorgnis heraus.
Mir war Gefühlsduselei zuwider. Sie war normalerweise ein Zeichen von Schwäche. Raphael stellte jedoch die Ausnahme dar. Er war trotz seiner Empathie ein nicht zu unterschätzender Mitstreiter.
»Er wird nicht springen. Dazu ist er zu feige!« Schnaubend erhob ich mich und tigerte in der kleinen Kaverne umher. Eine der wenigen Zufluchtsorte, die mir geblieben waren. Dieser Umstand kümmerte mich jedoch nicht, es stand weitaus mehr auf dem Spiel als die Nebensächlichkeit von Metatrons Wächtern aufgespürt zu werden.
»Ich dachte, du bist zu ihm vorgedrungen?«
»Bin ich. Ich kenne seine Gedanken und Gefühle. Er denkt zu viel und deswegen wird er nicht springen.« Verärgert trat ich gegen einen der zahlreichen Stalagmiten, die gemeinsam mit ihren Gegenstücken an der meterhohen Gesteinsdecke die Höhle bevölkerten. Es war ein feuchter Ort, der meine ohnehin unterirdisch üble Laune in die unergründlichen Tiefen der Hölle trieb.
»Wir müssen uns beeilen. Ich spüre es immer deutlicher. Sie sind uns dicht auf den Fersen und das Zeitfenster schließt sich ebenfalls bald,«, sagte Raphael und präsentierte mir einen wohlbekannten goldenen Ring auf seiner hohlen Handfläche. Es war der Ring meines Bruders, den er ihm unbemerkt hatte stehlen können und durch den er nun gewarnt wurde, wenn sich Michael näherte.
Ich blieb stehen und zuckte mit den Schultern. »Was glaubst du, was ich tu? Däumchen drehen? Wir wären längst verschwunden, wenn sich dein Romeo endlich aufraffen könnte, den notwendigen Schritt zu tun. Mir bleibt nichts anderes übrig, als schwerere Geschütze aufzufahren.« In Gedanken fügte ich hinzu: »Bevor er an Altersschwäche stirbt und wir weitere zehn Jahre warten müssen.«
Der nicht ungefährliche Übergang zwischen den Welten war zwar nicht schwierig für mich, aber er benötigte Zeit und Konzentration. Der Zeitunterschied von hier zu dort spielte dabei nur eine Nebenrolle. Während bei uns Minuten verstrichen, waren es Stunden und Tage auf der Erde.
Raphaels Miene zeigte mir entschieden, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte und er keinesfalls darüber amüsiert war. »Du hast mir versprochen, sanft mit ihm umzugehen.«
»Papperlapapp! Ich habe es auf deine Art versucht und jetzt bin ich an der Reihe. Wenn er es nicht tut, können wir gleich alles vergessen. Ohne ihn bleiben wir weiter in unseren Verstecken. Du wirst ihn schon in einem Stück wiederbekommen.«
»Ich kenne deine Art«, kam die pragmatische Antwort.
»Wusste nicht, dass du so ein weinerliches Püppchen bist?«
»Es reicht!«, donnerte Raphael mir entgegen. Ich liebte es, wenn ich mein Gegenüber auf die Palme brachte. Dann wusste ich auch, dass ich seine volle Aufmerksamkeit genoss.
»Was ist? Verträgst du die Wahrheit nicht?« Lachend setzte ich mich auf einen Felsen. »Hier steht mehr auf dem Spiel als Freundschaft. Das solltest du am besten wissen.«
»Dass du das so siehst, wundert mich nicht.«
»Langweiliges Geschwafel. Wo ist dein Sinn für Abenteuer?« Grinsend beobachtete ich, wie Raphael die weiße Robe zurechtrückte. Wie ich nur zu gut wusste, verdeckte sie neben seinem nicht zu verachtenden Körper ein äußerst markantes Tattoo. Mehr als einen Blick hatte ich in all den Jahren, die wir uns kannten, leider nicht erhaschen können. Dieses kleine Detail stimmte mich etwas wehleidig, denn obwohl er wie ein keuscher Priester wirkte, wäre er durchaus eine Sünde wert. »Du hältst dich an deine Aufgaben und ich mich an meine, sonst verdirbst du mir den ganzen Spaß.«
»Für dich ist alles stets ein Spiel«, warf er mir vor.
»Ein Abenteuer!«, verbesserte ich ihn rasch.
Raphael schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme.
»Jetzt heul nicht gleich. Ich halte meine Versprechen. Aber ich tu es auf meine Weise. Zufrieden?«
Ich sah ihn nachdenklich nicken. Würde Raphael nicht so eine gefestigte Willenskraft besitzen, hätte ich seine Gedanken lesen können. Es gab nur eine Handvoll Engel, die die Fähigkeit aufbrachten, sich gegen meine PSI-Kräfte zur Wehr zu setzen. Mein Gegenüber war einer von ihnen. Selbst wenn es mir gelungen wäre, hätte ich vermutlich kaum etwas erfahren. Raphaels gutmütiges Wesen war genau das Gegenteil von mir. Momentan kreisten seine Gedanken wahrscheinlich ohnehin nur um eine einzige Person.
»Hast du schon herausgefunden, wer der Verräter in unseren Reihen ist?«, wechselte ich das Thema. Wütend darüber, dass es mir nicht gelang, ihn persönlich aufzuspüren, sprang ich auf.
»Nein. Er versteckt sich gut.«
Schnaubend hob ich einen kleinen Stein vom Boden auf und warf ihn kraftvoll durch die Höhle.
»Es ist Metatron.«
»Was? Wie kommst du auf die Idee?«
»Metatron muss ihn vor uns abschirmen, sonst hätten Uriel und ich ihn längst aufgespürt.«
»Dieses listige kleine Insekt!«, knurrte ich und ballte die Hände. Am liebsten hätte ich ihn auf der Stelle gehäutet. Doch das wäre eine zu harmlose Strafe für das, was er getan hatte. »Dann wird es Zeit, dass ich ein Exempel statuiere.«
»Was schwebt dir vor?« Raphael beobachtete mich angespannt. Die Angst, ich würde etwas Unüberlegtes tun, stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Ich werde ihm einen Besuch abstatten. Damit rechnet er nicht.«
»Du bist wahnsinnig!«
Ich lächelte süffisant. »Danke für das Kompliment. Wollen wir doch einmal testen, wie weit seine Macht tatsächlich reicht. Gegen mich kann er nicht bestehen und das weiß er. Ich bin stärker, klüger und gerissener.«
»Du kannst dir nicht sicher sein. Niemand kennt seine derzeitigen Kräfte. Und wir haben alle miterlebt, wie erfolgreich wir beim ersten Versuch waren«, sagte Raphael sarkastisch.
»Du denkst, ich bin ihm nicht ebenbürtig?«
Raphael zuckte mit den Schultern.
Wütend knirschte ich mit den Zähnen. »Damit hat es nichts zu tun. Ich habe lediglich den Fehler begangen, ihn zu unterschätzen. So wie wir alle.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, hätte ich sie am liebsten sofort zurückgenommen. Ich hatte Machtlosigkeit gezeigt. Das durfte mir kein zweites Mal passieren.
»Wir waren alle nur halbherzig bei der Sache, deswegen wurde Seraphiel verbannt und du ausgestoßen. Metatrons Kraft wächst zunehmend. Wir müssen unbedingt in Erfahrung bringen, auf welcher Quelle seine neue Macht beruht.«
»Das ist mir egal. Es wird sich nicht noch einmal wiederholen! Darauf kannst du Gift nehmen! Ich stoße Metatron mit seiner blasierten Visage voran in die Hölle, damit die Dämonen mit ihm spielen können.«
Nun grinste Raphael. »Die Sache nagt ganz schön an dir.«
»Ach, wie kommst du da drauf?« Ich verengte die Augen zu gefährlichen Schlitzen.
»Ich kenne dich manchmal besser als du dich selbst.«
»Verschwinde! Ich mache hier alleine weiter.«
Raphael blieb jedoch stehen und starrte mich eindringlich an. Er musste nichts sagen, ich wusste, was ihn davon abhielt zu gehen.
»Nein! Nicht einmal, wenn die Feuer von Oxan einfrieren!«, sagte ich resolut.
»Nur eine kleine Strähne. Oder hast du Angst, ich könnte damit dein perfektes Antlitz ruinieren?«
Binnen eines Sekundenbruchteils überwand ich die wenigen Meter, die uns trennten, und stierte ihn grimmig an. Ich ließ meine Augen dabei absichtlich rot aufleuchten. Durch seine angeborene meisterhafte Fähigkeit des Gedankenlesens, die zu meinem Leidwesen hin und wieder die meine übertraf, hätte er gemeinsam mit mir den Äther durchdringen können. Aber um seine Kraft diesbezüglich einzusetzen, benötigte er etwas sehr Persönliches von mir, um in meinen Verstand einzudringen.
»Niemals!«, betonte ich.
Raphael schreckte nicht zurück. »Ich könnte dir helfen.«
Ich verschränkte die Arme. »Soll ich es dir buchstabieren?«
»Hattest du nicht gesagt, du liebst Abenteuer?«
»An meine Mähne geht mir keiner!«, unterstrich ich mit ernster Miene.
Ich holte einmal tief Luft und wandte mich ab. Fast im gleichen Moment spürte ich die Präsenz einer meiner Kundschafter, der sich mit schnellen Schritten näherte.
»Luzifer?«, rief er auch schon, als er den Tunnel betrat, der die Kaverne mit der Außenwelt verband. »Luzifer!«, wiederholte er und salutierte vor mir.
»Was ist los, Nanael?«, fragte ich übellaunig. Mein Gegenüber wirkte gehetzt.
»Einer von Michaels Spähtrupps ist auf dem Weg hierher.«
»Verdammt! Die sind lästiger als Fliegen. Geh und nimm die anderen mit. Wir treffen uns später in Coltra.«
Nanael nickte, warf Raphael einen gebührenden Blick zu und rannte davon.
»Du verschwindest ebenfalls und haltest dich bereit!«, wandte ich mich an meinen Mitstreiter.
»Sei vorsichtig!«, bat er mich und wirkte in der Tat besorgt.
Lachend sah ich ihn an. »Ich liebe Herausforderungen.«
»Das meine ich nicht.«
»Versprochen ist versprochen.« Ich musterte ihn provokativ.
Raphael nickte zufrieden und als er sich umdrehte, blitzte für einen Augenblick der goldene Ring in seiner Hand auf.
Jetzt lag es alleine an mir, dass unser Plan vorangetrieben wurde. Raphael würde Mittel und Wege finden, um Michales Truppen von mir abzulenken. Bisher hatte er mich nie im Stich gelassen und solange ich nicht meinen Teil erfüllt hatte, hegte ich an seiner Zuverlässigkeit keinerlei Zweifel.
Grinsend und mit gespannter Erwartung setzte ich mich auf einen der zahlreichen kleinen Felsen und schloss die Augen. Ich blendete alles um mich herum aus und konzentrierte mich auf die geistige Reise durch den Äther. Ich spürte, wie ein Kribbeln meinen Körper erfasste. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Wenige Momente später waberte ein grauer und zäher Dunst um mich herum, der hingegen mehr war, als ein gewöhnlicher Nebelschleier. Es war die Barriere, die die Himmelssphäre von der sterblichen Ebene der Menschen trennte. Das Tor, das beide Welten miteinander verband.

*

Erregt öffnete ich die Augen. Binnen eines Sekundenbruchteiles wusste ich, wo sich mein Wirtskörper befand und ebenso lange, um ihn erneut unter Kontrolle zu bringen. Sein innerer Aufschrei und das Gezeter, mit dem er mich in Gedanken bombardierte, rechnete ich ihm an. Dennoch blieb er ein nutzloser Herumtreiber, der einzig seinen Zweck erfüllte. Zumindest war er optisch eine Augenweide und bekam gerne einen zweiten Blick nachgeworfen. Ganz nach meinem Geschmack.
Rasch gewann ich die volle Gewalt über ihn und bündelte meine Konzentration auf die von mir gesuchte Person: Elijah. Glücklicherweise musste ich nicht lange suchen, er hielt sich in meiner Nähe auf.
Grinsend lief ich die Straße entlang und hielt kurz an einem Kiosk an. Mit einem Sixpack Bier in der Hand spazierte ich fröhlich weiter. Letztendlich erreichte ich die Universität. Mein innerer Kompass führte mich direkt vor die Tür des Hörsaals, hinter der Elijah saß. Zuerst überlegte ich hinein zu gehen und mich neben ihn zu setzen, nur um sein irritiertes Gesicht zu sehen. Aber warum sollte ich mir eine langweilige Vorlesung anhören? Mein Plan sah etwas anderes vor. Jetzt musste ich ihn nur in die Tat umsetzen.
Völlig gegen meine Art kam mir Raphael in den Sinn. Ich zweifelte keineswegs an seiner Loyalität. Seine Beweggründe stimmten mich allerdings misstrauisch. Würde er dem Auftrag wahrhaft gewachsen sein? Er trug die größte Bürde auf den Schultern. Scheiterte er, missglückte vermutlich auch die Revolution. Mich ärgerte es, dass mir in dem Fall zum ersten Mal die Hände gebunden wären. Meine Kräfte übertrafen die meiner Mitstreiter und Feinde um ein Vielfaches, aber ich war zu meinem Leidwesen nicht allmächtig.
Plötzlich nahm ich Elijah intensiver wahr und es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür zum Hörsaal. Interessiert musterte ich die Studenten und Studentinnen, die in den Gang strömten. Dem einen oder anderen schenkte ich ein lüsternes Lächeln, das manchmal erwidert wurde. Schade nur, dass meine momentane Rolle meine ganze Achtsamkeit forderte. Ich war nicht hier, um mich in irgendeinem Bett zu vergnügen, sondern aus einem weitaus bedeutsameren Grund. Doch ein wenig Spaß werde ich mir ja noch gönnen dürfen. Erheitert lachte ich auf und sandte eine telepathische Botschaft aus.
»Virtus tenebris fortior est! Die Macht der Dunkelheit wird stärker! Höre mich und kämpfe!«
Mein Opfer trat im gleichen Moment verwirrt aus dem Saal.
»So sieht man sich wieder«, sprach ich ihn augenzwinkernd an.
»Was ist los?« Elijah betrachtete mich verwundert, fing sich gleich darauf und durchbohrte mich förmlich mit seinem Blick. »Du schon wieder! Stalkst du mich?«
»Wie unhöflich!«, erwiderte ich grinsend. »Der Zufall hat entschieden, dass wir uns wiedersehen.«
»Idiot! Lass mich in Ruhe! Deine blöden Anmachsprüche kannst du dir sonst wo hinschieben. Ich bin nicht schwul! Kapiert?« Elijah verengte die Augen zu Schlitzen und drängte sich mit einem mürrischen »Hau ab!« an mir vorbei.
Ich folgte ihm. »Wer hat denn was von anmachen gesagt?«
»Bist du schwer von Begriff? Verschwinde!«, schnauzte er mich unwirsch von der Seite her an und beschleunigte seine Schritte.
Ich passte mich dem Tempo an. Warum war er nur so widerspenstig? Ich hatte keine andere Wahl als Elijah zu seinem Glück zu zwingen.
Unvermittelt blieb Elijah stehen. »Ein für alle Mal … du nervst! Ist das bei dir angekommen?« Die Worte unterstrich er mit einem giftigen Blick. Dann rannte er den Gang entlang davon.
»Warum bist du so mies drauf? Hast du einen Stock verschluckt?«, rief ich ihm nach, verzichtete aber darauf, ihm nachzueilen. Stattdessen schlenderte ich gelassen in den Innenhof der Universität.
Dort hatte Elijah auf einer der herumstehenden Bänke Platz genommen und tippte auf dem Smartphone eine Nachricht an seine Schwester. Eine perfekte Gelegenheit für mich. Er entkam mir nicht mehr. Ich bündelte meine PSI-Kräfte und sandte ihm auf telepathischer Ebene eine Woge positiver Gefühle mir gegenüber zu. Eine Methode, die ich nicht oft anwandte, die aber in diesem speziellen Fall ihren Zweck erfüllte.
Elijah sah resigniert auf, als ich vor ihm stehen blieb. Dieses Mal klang sein Tonfall jedoch friedvoller. »Hatte ich mich nicht klar und deutlich ausgedrückt?«
»Ja, hast du, ich lass mir leider nur ungern etwas vorschreiben«, antwortete ich keck und setzte mich unverhohlen neben ihm auf die Bank.
Zufrieden tastete ich mich in seine Gedanken vor. Ich beschwor unsere erste Begegnung herauf und nutzte die Bilder, um ihm aufzuzeigen, dass er keine wahren Freunde hatte, mit denen er ausgehen und das Leben genießen konnte. Seine Kommilitonen sahen in ihm nur einen Krüppel. Ich forcierte seine bisherigen negativen Erfahrungen mit einer heftigen Flut mitleiderregender Emotionen. Zudem vertiefte ich sie mit ausgiebigen Gefühlen der Hilflosigkeit und Verzweiflung. Kurzerhand redete ich ihm ein, dass bisher niemand sein Interesse auf diese Art und Weise geweckt hatte wie meine attraktive Wenigkeit. Ich war ein Mann, der hinter Elijahs Maske aus Ablehnung einen Menschen wahrnahm, der es wert war, kennengelernt zu werden. Warum sollte er sich gegen mich sträuben? Eine gewisse Skepsis ließ ich ihm jedoch.
»Du musst dringend etwas lockerer werden. Ist dir schon aufgefallen, dass du hier der Einzige bist, der ein Gesicht zieht, als würde die Welt untergehen?«
»Hast du nichts Besseres zu tun, als mir deine ach so hochtrabenden Weisheiten aufzutischen? Wie hast du mich überhaupt gefunden?«, fragte er argwöhnisch. Trotz des empörten Blickes, den er mir zuwarf, überwog die Neugier.
»Du bist ein Typ nach meinem Geschmack. Zufällig studieren wir an der gleichen Uni.«
»Aber ich bin nicht schwul!«
»Deine Gestik verrät mir etwas anderes.«
Verärgert verschränkte er die Arme. »Dann siehst du nicht richtig hin. Musst du nicht zu einer Vorlesung?«
»Keine Lust. Bei dem schönen Wetter bin ich lieber draußen, anstatt in einem muffigen Saal zu verstauben. Und da wir gerade auf der gleichen Bank sitzen, würde ich mich gerne ein bisschen mit dir unterhalten.«
Fassungslos starrte Elijah mir in die Augen. »Du? Mit mir?« Dabei deutete er mit dem Zeigefinger auf die eigene Brust.
»Procede ex carcerem tuum! Erlöse dich aus deinem Gefängnis!«, übermittelte ich ihm im gleichen Moment mental und ergötzte mich an seiner verständnislosen Miene.
»Lass mich bloß in Ruhe!« Elijah klang verzweifelt.
»Aber es ist so einfach, sich aus dem Schneckenhaus zu befreien. Ein wenig Spaß im Leben ist nie verkehrt.«
Auch wenn sich seine Gedanken nicht wie ein offenes Buch vor mir ausgebreitet hätten, wäre ich in der Lage gewesen, den überraschten Gesichtsausdruck zu deuten. Ich hatte ihn gegen seinen Willen wie einen Fisch an der Angel.
»Was weißt du schon von mir?« Elijahs Abneigung mir gegenüber verblasste allmählich.
Ich zwinkerte ihm zu. »Inzwischen mehr, als du denkst.«
»Ich brauche keine Psychoanalyse von mir selbst. Du scheinst dich richtig wichtig zu nehmen.«
»Ich erkenne, dass du einen Freund brauchst. Jemand, der dir zuhört. Das Leben ist ein Abenteuer. Man erreicht nichts, wenn man in Selbstzweifeln versinkt. Und du bist so ein Kandidat. Ist es wegen deiner Behinderung? Dann lass dir eines gesagt sein: Du läufst besser als manch einer mit zwei gesunden Beinen.«
Skeptisch hob er die Augenbrauen.
Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Komm schon, gib dir einen Ruck.«
Elijah musterte mich eindringlich. Er fand mich kühn und interessant, aber auch äußerst attraktiv. Dieser letzte Gedankengang irritierte ihn mehr, als alles Gesagte davor. Innerlich lachte ich auf, denn er kannte mein wahres Äußeres nicht.
»Vorschlag«, sagte ich verschmitzt. »Wir zwei gehen zusammen einen Trinken.« Dabei hielt ich ihm wie aus dem Nichts das Sixpack Bier vor die Nase.
»Du verarschst mich doch? Wo ist die versteckte Kamera?« Elijah sah über die Schultern, in der Hoffnung, er würde nur einem schlechten Scherz seiner Mitkommilitonen zum Opfer fallen. Als er bemerkte, dass wir alleine waren, spürte ich, dass die harte Schale von ihm abfiel. Er war hin- und hergerissen.
»Es war Schicksal, dass wir uns vor zwei Tagen trafen. Ich beiße schon nicht, außer in knackige Ärsche.« Ich zwinkerte ihm ein weiteres Mal zu.
In diesem Augenblick hörte ich ihn aus vollem Hals lachen. Ich hatte ihn geködert.

*

Seit mehreren Stunden saßen wir bei strahlendem Sonnenschein am Themseufer, tranken Bier und unterhielten uns. Elijah war sogar noch einmal losgezogen und hatte einen weiteren Sixpack besorgt. In all der Zeit hatte ich darauf verzichtet, ihn zu quälen, und durch positive Schwingungen meinerseits sein Vertrauen erlangt. Allmählich wurde ich es jedoch leid, den deprimierenden Schilderungen aus seinem Leben zuzuhören. Das Zeitfenster schloss sich Stück für Stück und ich musste mich beeilen. Vor allem, weil ich spürte, dass Metatrons Wächter mir dicht auf den Fersen waren.
»Findest du es nicht auch verlockend, dort herunterzuspringen?«, fragte ich Elijah, während mein Blick auf die nicht weit entfernten Hochhäuser Londons gerichtet war.
»Ist nicht dein Ernst?«, hörte ich ihn fragen.
Ich lauschte seinen Gedanken, die mehr aussagten, als die gesprochenen Worte. Zudem hatte der Alkohol seine Wirkung nicht verfehlt. Elijah war zwar nur leicht angetrunken, aber um einiges zugänglicher.
»Es ist so kinderleicht«, antwortete ich ihm versonnen und nahm den letzten Schluck aus der Dose.
»Wieso du? Bei mir kann ich es nachvollziehen. Ich habe ein Scheißleben. Ich kann mich an nichts erinnern und jeder hält mich für einen behinderten Versager. Wenn ich springe, würde mich kein Hahn nach mir krähen.«
»Wäre bei mir nicht anders. Ich bin ein Loser auf ganzer Linie. Es würde niemanden interessieren.« Ich sah ihm direkt in die Augen. Seine Schwermütigkeit spiegelte sich in ihnen wider.
»Dafür bist du ein attraktiver Loser«, meinte er aus heiterem Himmel und ein leicht rosa Schimmer trat auf seine Wangen.
»Wusste ich es doch.« Lachend nahm ich mir eine neue Dose und reichte sie an ihn weiter. Danach öffnete ich mir selbst eine.
»Ich bin nicht schwul!«, schmetterte er meine Vermutung rigoros ab und nahm einen großen Schluck, als würde er sich damit Mut antrinken.
»So, wie du mich die ganze Zeit schon mit den Augen ausziehst, würde ich sagen, du bist es«, stellte ich grinsend klar.
»Aber ich stehe auf Frauen!«, beharrte er.
»Das denkst du nur. In Wahrheit fühlst du dich von Männern angezogen. Du kannst es nicht leugnen. Ich sehe es dir an der Nasenspitze an.«
Elijahs Gesichtsfarbe ähnelte inzwischen einer roten Chili. Amüsiert über die Wendung unseres Gespräches, drang ich tiefer in seine Gedanken ein.
»Lass mich raten. Du willst eine Familie gründen, weil du denkst, das entspricht der Norm und weil du dann nicht alleine wärst. Doch tief in deinem Inneren sind es nicht die Frauen, die dich heiß machen. Du verdrängst es nur gekonnt hinter einem Lügengerüst, das du dir selbst aufgebaut hast.«
Für einen Augenblick wurde es still. Elijah beschwor unbewusst lüsterne Bilder zwischen zwei nackten Männern herauf, die ihn erregten. Offensichtlich hatte er seinen Kampfgeist nicht verloren, denn er versuchte, sich vehement eine romantische Nacht mit einer begehrenswerten Frau vorzustellen, und scheiterte kläglich.
»Du warst schon immer schwul, nur weißt du es nicht«, unterstrich ich seine unverhohlene gedankliche Vorstellung.
Verlegen senkte Elijah den Blick. »Nein! Ich … ich …«, stammelte er und gab schließlich auf. Vor seinem inneren Auge verschwamm das Gesicht der Frau zu dem eines Mannes. Trainierte Muskeln zeichneten sich unter der Haut ab und er stellte sich vor, wie er die Lippen seines Gegenübers gierig küsste. Wie dessen Hand über Elijahs Rücken fuhr und dabei jeden Zentimeter seines Körpers erforschte.
»Woher willst du wissen, dass es nicht so ist? Du kannst dich nicht mehr erinnern«, stocherte ich weiter. »Du kannst es ruhig zugeben, Männer machen dich an.«
Erschrocken zuckte er zusammen. »Manchmal habe ich echt das Gefühl, du kannst Gedanken lesen.«
Bingo, der Kandidat hat hundert Punkte, schoss es mir durch den Kopf und ich leckte mir über die Lippen. »Womöglich kann ich dich nur gut einschätzen«, sagte ich stattdessen.
»Bist du schwul?«, erkundigte er sich geradeheraus.
»Ich bin kein Kostverächter.« Lachend zwinkerte ich.
»Kann es sein, dass das Schicksal es so wollte?«, fragte er unvermittelt.
»Was genau meinst du?«
»Dass wir uns trafen. Du … du bist so anders. Anders als alle, die ich kenne. Ich … ich kann es nicht erklären.«
Lächelnd rückte ich näher an ihn heran. Unsere Blicke trafen sich und ich spürte seine zunehmende Nervosität. Für einen Sekundenbruchteil spielte ich mit dem Gedanken, ihn zu küssen und damit zu beweisen, dass er gegen seine wahren Gefühle machtlos war. Denn genau dieses Bild nahm ich in seinem Geist wahr. Stattdessen nahm ich seine Hand und mein Daumen streichelte sanft über den Handrücken. Mir lief die Zeit davon, denn ich bemerkte, dass die Wächter immer näher kamen. Nicht mehr lange und sie würden mein Versteck erreichen. »Ausgerechnet jetzt!«, fluchte ich mental.
»Warum finden wir das nicht demnächst zusammen heraus«, flüsterte ich ihm ins Ohr. Meine Lippen streiften sacht seine Wange, als ich mich zurückzog.
Elijah schloss die Lider und schluckte merklich. Ich hatte ihn erregt.
»Ein Abenteuer ist es immer wert, ausgelebt zu werden«, sandte ich ihm auf telepathischem Weg zu.
»Du meinst, er hat recht?«, antwortete er mir gedanklich. Seine Unsicherheit war plötzlich wieder zum Greifen nahe. Aber vor allem glaubte er, mit sich selbst zu reden. Dass ich dahinter steckte, ahnte er nicht.
»Ja! Höre endlich auf, alles zu analysieren. Gefühle kann man nicht kontrollieren. Tu, was du tun willst und was du tun musst!«
»Für mich wird es Zeit, abzuhauen«, sagte ich laut und sah in Elijahs hilflos wirkendens Gesicht, als ich ihn losließ und aufstand.
»Warum?« Ich fühlte seine Enttäuschung. Mehr noch die Angst, er hätte mich mit seinem Zögern vergrault.
»Hat nichts mit dir zu tun. Ich muss dringend etwas erledigen.« Mir blieben höchstens noch einige Minuten auf dieser Welt, bevor mir in meiner eigenen der Fluchtweg abgeschnitten wurde.
»Sehen wir uns wieder, Roman?« In seinem Tonfall schwang die Unsicherheit mit.
Ich grinste, schnappte mir eine Dose und drehte mich um. »Natürlich. Schneller, als du denkst. Mach dir keine Sorgen.«
Ich trank das Bier im Davoneilen aus. Ehe ich den Wirtskörper verließ, wollte ich so viel Distanz zwischen ihn und Elijah bringen wie möglich. Eine erneute Begegnung der beiden wäre für mein Vorhaben nicht förderlich. Nach fast dreihundert Metern, in denen ich Elijahs sehnsüchtigen Blick im Rücken spürte und seine Zweifel wuchsen, fand ich endlich ein ruhiges Plätzchen, das ich dringend benötigte.
Gelassen lehnte ich mich gegen einen Baum und schloss die Augen. Ich konzentrierte mich abermals auf die Reise durch den Äther, der allmählich zähflüssiger wurde. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sich Sternenkonstellationen veränderten und selbst für mich ein Hindurchkommen unmöglich wurde.

 

© Madison Clark